SEELE

Weit davon entfernt, ein ,,Teil" zu sein, der zusammen mit dem Körper das menschliche Wesen ausmacht, bezeichnet die Seele den Menschen in seiner Gesamtheit, sofern er durch einen Lebens- Geist beseelt ist. Strenggenommen bewohnt sie nicht einen Körper, sondern drückt sie sich durch den Körper aus, der seinerseits wieder ebenso wie das Fleisch den Menschen in seiner Konkretheit bezeichnet. Wenn die Seele auf Grund ihrer Beziehung zum Geiste im Menschen auf dessen geistigen Ursprung hinweist, so ist diese ,,Geistigkeit" doch in der konkreten Welt zu tiefst verwurzelt, wie das Ausmaß des Anwendungsbereiches dieses Ausdrucks beweist.

I. Die Seele und die lebendige Person

In den meisten Sprachen knüpfen die Wörter, die die Seele bezeichnen, wie nephesch (hebr.), psyche (griech.), anima (lat.), mehr oder weniger unmittelbar an das Bild des Hauches an.

1. Der lebendige Mensch. Denn der Hauch, der Atem, ist in der Tat das Zeichen für das Lebendige schlechthin. Lebendig sein heisst noch Atem in sich haben (2 Sm 1, 9; Apg 20, 10). Wenn der Mensch stirbt, entflieht die Seele (Gn 35, 18), wird sie ausgehaucht (Jr 15, 9) oder gleich einer Flüssigkeit ausgegossen (Is 53, 12); wenn er zum Leben wiederkehrt, kehrt die Seele in ihn zurück (1 Kg 17, 21). Griechen wie Semiten könnten sich dieser Ausdrucksweisen bedienen. Doch verbirgt sich hinter dieser Gleichheit der Ausdrucksweise eine Verschiedenheit in der Perspektive. Nach einer ziemlich allgemeinen Auffassung hat die Seele die Tendenz, ein für sich bestehendes Prinzip zu werden, das unabhängig vom Körper, in dem sie sich befindet oder den sie verlässt, existiert: eine ,,spiritualistische" Vorstellung, die vielleicht auf den im Gegensatz zum materiellen Körper fast immateriellen Charakter des Hauches zurückgeht. Für die Semiten dagegen bleibt der Hauch von dem Körper, den er beseelt, untrennbar; er zeigt nur die Art und Weise an, wie sich das konkrete Leben im Menschen kundtut, und dies vor allem durch das, was sich selbst dann regt, wenn er unbeweglich schläft. Liegt hier vielleicht einer der tiefsten Gründe, die zur Identifizierung von Seele und Blut geführt haben? (Ps 72, 14). Die Seele ist im Blute (Lv 17, 10f), ja das Blut selbst (Lv 17, 14; Dt 12, 23).

2. Das Leben. Von der Bedeutung des ,,Lebendigen" geht der Begriff ohne Schwierigkeit zu dem des Lebens über, wie die parallele Verwendung beider Ausdrücke zeigt: ,,Gib die Seele deiner Taube nicht dem Tiere preis, vergiss das Leben deiner Armen nicht auf immer!" (Ps 74, 19.) So lässt sich das ,,Seele um Seele" des Wiedervergeltungsrechtes auch übersetzen: ,,Leben um Leben" (Ex 21, 23). Auf diese Weise werden ,,Leben" und ,,Seele" oft gleichgestellt, obwohl es sich dabei nicht bloß um das ,,geistige" Leben im Gegensatz zum ,,körperlichen" Leben handelt. Andererseits aber zeigt sich immer deutlicher, dass dieses lange Zeit auf einen irdischen Horizont beschränkte Leben einem himmlischen, ewigen Leben offen steht. Man muß also in jedem einzelnen Falle den Kontext befragen, um den genauen Sinn des Wortes festzustellen. In gewissen Fällen wird die Seele als das Prinzip des zeitlichen Lebens betrachtet. Man fürchtet sie zu verlieren (Jos 9, 24; Apg 27, 34), man möchte sie vor dem Tode bewahren (1 Sm 19, 11; Ps 6, 5), sie in Sicherheit bringen (Lk 21, 19), wenn man sie bedroht fühlt (Röm 11, 3 = 1 Kg 19, 10; Mt 2, 20 = Ex 4, 19; Ps 35, 4; 38, 13). Umgekehrt soll man sich nicht übermässig um sie sorgen (Mt 6, 25 par.), sondern sie einsetzen (Phil 2, 30), sie für seine Schäflein hingeben (1 Thess 2, 8). Jesus gibt sie hin (Mt 20, 28 par.; Jo 10, 11. 15. 17), und auch wir sollen, sein Beispiel nachahmend sie opfern (Jo 13, 37f; 15, 13; 1 Jo 3, 16). Wenn ein solches Opfer des Lebens gebracht werden kann, so nicht nur aus dem Wissen heraus, dass Jahve es retten kann (Ps 34, 23; 72, 14), sondern weil Jesus mit Hilfe desselben Wortes die Gabe des ewigen Lebens geoffenbart hat. So verwendet er die verschiedene Bedeutung des Ausdrucks zu dem Wortspiel: ,,Wer meine Seele retten will, wird sie verlieren, wer aber seine Seele um meinetwillen verliert, wird sie gewinnen" (Mt 16, 25f par.; vgl. Mt 10, 39; Lk 14, 26; 17, 33; Jo 12, 25). Unter diesen Voraussetzungen ist das ,,Heil der Seele" letztlich der Sieg des in die Seele hineingelegten ewigen Lebens (Jak 1, 21; 5, 20; 1 Petr 1, 9; Hebr 10, 39).

3. Die menschliche Person. Wenn das Leben das wertvollste Gut des Menschen ist (1 Sm 26, 24), so bedeutet seine Seele retten dasselbe wie sich selber retten: die Seele bezeichnet letztlich die Person. Objektiv bezeichnet man mit ,,Seele" zunächst jedes lebende Wesen, das Tier mit eingeschlossen (Gn 1, 20f. 24; 2, 19); in den meisten Fällen aber handelt es sich um die Menschen; so spricht man von einem ,,Ort mit 70 Seelen" (Gn 46, 27 = Apg 7, 14; Dt 10, 22; Apg 2, 41; 27, 37). Eine Seele ist ein Mensch, irgend jemand (Lv 5, 1..; 24, 17; Mk 3, 4; Apg 2, 43; 1 Petr 3, 20; Apk 8, 9), beispielsweise im Gegensatz zu einer Schiffsladung (Apg 27, 10). Auf der höchsten Stufe der Objektivierung kann sogar ein Leichnam in Erinnerung an das, was er war, als eine ,,tote Seele" bezeichnet werden (Nm 6, 6). Subjektiv entspricht die Seele gleich dem Herz oder dem Fleisch unserem ,,Ich", dies aber mit einer Nuance von Innerlichkeit und vitaler Kraft. ,,So wahr meine Seele lebt!" (Dt 32, 40; Am 6, 8; 2 Kor 1, 23) bringt den letzten Einsatz dessen zum Ausdruck, der den Schwur ablegt. David liebte Jonathan ,,wie seine eigene Seele" (1 Sm 18, 1. 3). Endlich bringt sich dieses Ich in Tätigkeiten zum Ausdruck, die nicht alle ,,geistig" sind. So spricht der reiche Mann zu sich selbst: ,,Dann will ich zu meiner Seele sagen: Meine Seele, ruhe dich nun aus, iß, trink und laß es dir wohl sein! Gott aber spricht zu ihm: Du Tor! Noch in dieser Nacht wird man deine Seele (= dein Leben) von dir fordern!" (Lk 12, 19f.) Die Erwähnung der Seele unterstreicht die Freude am Leben und den Willen zum Leben und erinnert ein wenig an den gebieterischen Charakter, den der Durst in einer glühenden Kehle annimmt (Ps 63, 2). Die lechzende, hungrige Seele kann gesättigt werden (Ps 107, 9; Jr 31, 14). Ihre Gefühle gehen von der Freude (Ps 86, 4) bis zur Verwirrung (Jo 12, 27) und zur Betrübnis (Mt 26, 38 = Ps 42, 6), von der Erleichterung (Phil 2, 19) bis zur Erschlaffung (Hebr 12, 3). Sie will sich stärken, um den Vatersegen erteilen (Gn 27, 4) oder die Verfolgung ertragen zu können (Apg 14, 22). Sie ist imstande, zu lieben (Gn 34, 3) oder zu hassen (Ps 11, 5), an jemandem Gefallen zu haben (Mt 12, 18 = Is 42, 2; Hebr 10, 38 = Hab 2, 4), Gott ohne Rückhalt zu suchen (Mt 22, 37 par. = Dt 6, 5; Eph 6, 6; Kol 3, 23) und den Herrn beständig zu preisen (Ps 103, 1). Erst diese Sinnfülle ermöglicht es, gewissen Formeln ihre ursprüngliche Ausdruckskraft wiederzugeben; z.B.: die Seelen sollen geheiligt werden (1 Petr 1, 22). Für sie opfert sich der hl. Paulus hin (2 Kor 12, 15), über sie wachen die geistlichen Vorsteher (Hebr 13, 17), ihnen verspricht Jesus die Ruhe (Mt 11, 29). Diese Seelen sind Wesen aus Fleisch, in die aber ein Samenkorn des Lebens, ein Keim der Ewigkeit gelegt worden ist.

II. Die Seele und der Lebensgeist

1. Die Seele und das Lebensprinzip. Wenn die Seele das Zeichen des Lebens ist, so ist sie doch nicht dessen Quelle. Hierin liegt ein zweiter, tiefgreifender Unterschied, der die beiden Mentalitäten - semitischen und platonischen Ursprungs - voneinander trennt. Für diese ist die Seele identisch mit dem Geist, dessen Emanation sie in gewissem Sinne darstellt und der dem Menschen eine regelrechte Autonomie verleiht. Für den Semiten ist nicht die Seele, sondern Gott durch seinen Geist die Quelle dem Lebens: ,,Gott hauchte ihm einen Lebensodem (n.schama) in die Nase, und so ward der Mensch zu einer lebenden Seele (nephesch; Gn 2, 7). In jedem Lebewesen ist ein ,,Odem des Lebensgeistes" (= des -hauches) (Gn 7, 22), ohne den es stürbe. Dieser Hauch ist ihm für die ganze Dauer seines sterblichen Lebens geschenkt: ,,Entziehst du ihnen den Odem, so verscheiden sie und kehren zu ihrem Staube zurück; sendest du deinen Odem aus, so entstehen sie neu" (Ps 104, 29f). Die Seele (psyche) als Prinzip des Lebens und der Geist (pneuma) als dessen Quelle unterscheiden sich also im Herzen des menschlichen Wesens, dort, wohin nur das Wort Gottes Zutritt erlangen kann (Hebr 4, 12). In die christliche Ordnung übertragen, gestattet diese Unterscheidung, von ,,psychischen Menschen ohne Geist" (Jud 19) zu reden oder in den ,,psychischen" Menschen Gläubige zu erblicken, die aus dem ,,pneumatischen" Zustand, in den sie die Taufe versetzt hatte, in das ,,irdische" Stadium zurückgesunken sind (1 Kor 2, 14; 15, 44; Jak 3, 15).

2. Die Seele und das Fortleben. Als unmittelbare Folgerung ergibt sich aus dem Gesagten: Zum Unterschied vom Geist, von dem niemals gesagt wird, dass er stirbt, sondern dass er zu Jahve zurückkehrt (Jb 34, 14f; Ps 31, 6; Prd 12, 7), kann die Seele sterben (Nm 23, 10; Ri 16, 30; Ez 13, 19) und gleich den Gebeinen (Ez 37, 1 - 14) oder dem Fleisch (Ps 63, 2; 16, 9f) dem Tode überantwortet werden (Ps 78, 50). Sie steigt in den Scheol hinab, um dort das armselige Dasein der Schatten und der Toten zu fristen, fern vom ,,Lande der Lebendigen", von dem sie nichts mehr weiß (Jb 14, 21f; Prd 9, 5. 10), fern auch von Gott, den sie nicht preisen kann (Ps 88, 11 ff), denn die Toten wohnen im Lande des Schweigens (Ps 94, 17; 115, 17). Mit einem Wort, sie ,,ist nicht mehr" (Jb 7, 8. 21; Ps 39, 14). Die Allmacht Gottes aber wird diese Seele, die in die Tiefen des Abgrunds hinabgestiegen ist (Ps 30, 4; 49, 16; Spr 23, 14), wieder daraus hervorgehen lassen (2 Makk 7, 9. 14. 23) und den zerstreuten Gebeinen neues Leben einhauchen: dessen ist der Glaube gewiss. Der ganze Mensch wird wieder zu einer ,,lebenden Seele" und, wie der hl. Paulus sagt, zu einem ,,geistigen Leibe" werden: er wird unversehrt wieder auferstehen (1 Kor 15, 45 = Gn 2, 7).

3. Die Seele und der Körper. Wenn die Seelen in den Scheol hinabsteigen, so heisst dies nicht, dass sie dort ohneKörper ,,leben", ihnen kommt keine wirkliche ,,Existenz" zu, eben weil sie sich ohne ihre Körper nicht zum Ausdruck bringen können. Die Lehre von der Unsterblichkeit des Menschen darf also mit dem Begriff der Geistigkeit der Seele nicht einfachhin identifiziert werden. Ebenso ist es unwahrscheinlich, dass das Weisheitsbuch sie dem Bestand der biblischen Offenbarung eingefügt habe. Gewiss besass der Verfasser des Buches der Weisheit eine gewisse Kenntnis des Hellenismus und verwendet gelegentlich aus der griechischen. Anthropologie stammende Begriffe. Doch ist seine Mentalität stets eine andere. Gewiss ,,beschwert der sterbliche Leib die Seele, und das erdhafte Gezelt belastet den vielsinnenden Geist" (Weish 9, 15), doch handelt es sich hier um den Verstand des Menschen, nicht um den Lebensgeist; vor allem ist in keiner Weise von einer Verachtung der Materie (vgl. 13, 3) oder des Körpers die Rede. ,,Weil ich gut war, gelangte ich in einen unbefleckten Leib" (8, 19f), sagt der Verfasser. Wenn demnach auch ein Unterschied zwischen der Seele und dem Leibe besteht, so doch nicht in dem Sinne, als wäre damit eine wirkliche Existenz einer vom Leibe getrennten Seele ins Auge gefasst, wie ja auch in den jüdischen Apokalypsen dieser Zeit die Seelen in den Hades hinabsteigen (Weish 16, 14). Gott, in dessen Hand sie sind (3, 1; 4, 14), kann sie wieder auferwecken, weil er den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen hat (2, 23). Wenn aber die Bibel dem ganzen Menschen zuschreibt, was man später auf Grund einer Unterscheidung zwischen der Seele und dem Körper der Seele vorbehalten hat, so bezeugt sie deshalb doch keinen weniger klaren Glauben an die Unsterblichkeit. Jene Seelen, die unter dem Altare (Apk 6, 9; 20, 4) ihres Lohnes harren (Weish 2, 22), befinden sich dort nur als ein Appell an die Auferstehung die ein Werk des Geistes des Lebens, nicht aber einer immanenten Kraft ist. Gott hat in die Seele einen Keim der Ewigkeit hineingelegt, der zur gegebenen Zeit zur Reife gelangen wird (Jak 1, 21; 5, 20; 1 Petr 1, 9). Auferstehung