SUENDE

Die Bibel spricht oft, ja fast auf jeder Seite, von jener Wirklichkeit, die wir gemeinhin Sünde nennen. Die Ausdrücke, mit denen das Alte Testament sie bezeichnet, sind vielfältig und meist den menschlichen Beziehungen entnommen: Verfehlung, Vergehen, Auflehnung, Ungerechtigkeit; das Judentum hat den der Schuld hinzugefügt, dessen sich auch das Neue Testament bedient. Noch allgemeiner wird der Sünder als derjenige bezeichnet, ,,der tut, was böse ist in den Augen Gottes", und im Gegensatz zum ,,Gerechten" (saddiq) steht in der Regel der ,,Frevler" (rasch'a). Die wahre Natur der Sünde, ihre Bosheit und ihr Ausmaß aber tritt vor allem durch die biblische Geschichte zutage; sie lehrt uns auch, daß diese Offenbarung über den Menschen zugleich eine Offenbarung über Gott ist, über seine Liebe der sich die Sünde widersetzt, und über seine Barmherzigkeit die sich ihr gegenüber erweist; denn die Heilsgeschichte ist nichts anderes als die Geschichte der vom Schöpfergott unablässig wiederholten Versuche, den Menschen seiner Sünde zu entreißen.

1. Die Ursünde

Von allen Erzählungen des Alten Testaments ist die von jenem Sündenfall, mit dem die Menschheitsgeschichte beginnt, am lehrreichsten. Wenn man verstehen will, was die Sünde ist, muß man von ihr ausgehen, obwohl das Wort Sünde darin gar nicht vorkommt.

1. Die Sünde Adams erscheint darin wesentlich als ein Ungehorsam, als ein Akt, durch den sich der Mensch bewußt und überlegt Gott widersetzt, indem er eines seiner Gebote übertritt (Gn 3, 3). Doch weist die Heilige Schrift über diesen äußeren Akt der Auflehnung hinaus ausdrücklich auf einen inneren Akt hin, aus dem jener hervorgegangen ist: Adam und Eva sind ungehorsam gewesen, weil sie der Einflüsterung der Schlange nachgegeben haben und ,,Göttern gleich sein wollten, ,,die das Gute und das Böse erkennen" (3, 5). Dies aber bedeutet nach der verbreitetsten Auslegung, daß sie sich an die Stelle Gottes setzen wollten, um über Gut und Böse zu entscheiden: Sie erheben den Anspruch, sich selbst zum Maßstab zu nehmen, die alleinigen Herren ihres Geschickes zu sein und nach Gut dünken über sich zu verfügen. Sie lehnen es ab, von dem abhängig zu sein, der sie erschaffen hat, und verkehren auf diese Weise die Beziehung, die den Menschen mit Gott verband.

Nun aber war diese Beziehung nach Gn 2 nicht bloß eine solche der Abhängigkeit, sondern der Freundschaft. Der Gott der Bibel hatte dem ,,nach seinem Bilde und Gleichnis" geschaffenen Menschen (Gn 1, 26f) nichts verweigert. Er hatte im Gegensatz zu den von den alten Mythen beschriebenen Göttern nichts für sich zu rückbehalten, nicht einmal das Leben (vgl. Weish 2, 23). Auf Anstiften der Schlange aber beginnt zuerst Eva, dann auch Adam, an diesem unendlich freigebigen Gott zu zweifeln: Das zum Wohle des Menschen erlassene Gebot (vgl. Röm 7, 10) sollte nichts anderes sein als eine von Gott erfundene List, um sich seine Vorrechte zu sichern, und die mit dem Gebot verbundene Drohung sollte nichts anderes sein als eine Lüge: ,,Keineswegs werdet ihr sterben! Gott weiß nämlich, daß ihr an dem Tage, da ihr von dieser Frucht esset, wie Götter sein werdet, die das Gute und das Böse erkennen" (Gn 3, 4f). Der Mensch wird mißtrauisch gegen Gott, der zu seinem Rivalen geworden ist. Selbst der Gottesbegriff wird verkehrt:

An die Stelle der Vorstellung von einem vollkommen selbstlosen, weil unendlich vollkommenen Gott, der keines Dinges bedarf und nur geben kann, tritt der eines bedürftigen, auf sich selbst bedachten Wesens, das nur darauf aus ist, sich seiner Kreatur gegenüber zu behaupten. Bevor die Sünde den Menschen zu seiner Tat bestimmt, hat sie seinen Geist verderbt, und da sie diesen Geist eben in seiner Beziehung zu Gott berührt, dessen Bild er ist, kann man sich keine radikalere Verkehrtheit vorstellen, sich aber auch nicht wundern, daß sie so ernste Folgen nach sich zieht.

2. Die Folgen der Sünde. Die Sünde hat zwischen dem Menschen und Gott alles verändert. Noch bevor die Strafe im eigentlichen Sinne erfolgt (Gn 3, 23), ,,verbergen sich Adam und Eva", die sich bis dahin des vertrauten Umgangs mir Gott erfreut hatten (vgl. 2, 25), ,,vor Jahve-Gott inmitten der Bäume" (3, 8). Die Initiative ist vom Menschen ausgegangen. Er ist es, der von Gott nichts mehr wissen wollte und vor ihm flieht. Die Vertreibung aus dem Paradiese wird diesen Willen des Menschen nur noch bestätigen. Diesem aber wird dann zum Bewußtsein kommen, daß die Drohung keine Lüge gewesen ist: Ferne von Gott ist ihm der Zugang zum Baume des Lebens versperrt (3, 22); was letztlich verbleibt, ist der Tod Als Bruch zwischen dem Menschen und Gott führt die Sünde auch zum Bruch zwischenden Angehörigen der menschlichen Gesellschaft, und zwar schon vom Paradiese an, ja selbst schon beim ersten Menschenpaare. Kaum hatte Adam die Sünde begangen, distanziert er sich von derjenigen, die ihm Gott als Hilfe gegeben hatte (2, 18) als ,,Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch" (2, 23), und beschuldigt sie; die Strafe aber bestätigt diesen Bruch:

,,Dein Verlangen wird zu deinem Manne gehen, er aber wird über dich Herr sein (3, 16). In der Folge aber dehnte sich dieser Bruch auf die Söhne Adams aus: es kam zur Ermordung Abels (4, 8); Gewalttat und das Gesetz des Stärkeren, das der wilde Sang des Lamech verherrlicht (4, 24), reißen die Herrschaft an sich. Doch war dies noch nicht alles. Das Geheimnis der Sünde greift über die Welt des Menschen hinaus. Zwischen Gott und dem Menschen ist eine dritte Persönlichkeit aufgetaucht, von der das Alte Testament so gut wie gar nicht sprechen wird, wohl um zu vermeiden, daß man daraus einen zweiten Gott mache, die aber die Weisheit mit dem Teufel oder mir dem Satan identifizieren wird und die auch im Neuen Testament in Erscheinung tritt.

Doch schließt dieser Bericht von der ersten Sünde nicht ab, ohne daß dem Menschen eine Hoffnung gegeben wird. Gewiß ist die Knechtschaft, in die sich der

Mensch in der Meinung, die Unabhängigkeit zu erringen, begeben hat, an sich endgültig. Die Sünde kann, nachdem sie einmal in die Welt eingedrungen ist, nur mehr Sünde gebären; im selben Maße aber, als sich die Sünde vermehrt, wird das Leben an Kraft verlieren, bis es mit der Sintflut völlig erlischt (Gn 6, 13ff). Die Initiative zum Bruch ist vom Menschen ausgegangen; klarerweise kann die Initiative zur Wiederversöhnung nur von Gott kommen. Dies aber ist es, was schon diese erste Erzählung durchblicken läßt: daß Gott eines Tages diese Initiative ergreifen wird (3, 15). Die Güte Gottes, die der Mensch verachtet hat, wird schließlich den Sieg davontragen; sie wird ,,das Böse durch das Gute besiegen" (Röm 12, 21). Die Weisheit sagt, daß Adam ,,aus seinem Fall errettet wurde" (Weish 10, 1). Jedenfalls zeigt die Genesis diese Güte bereits am Werk: Sie bewahrt Noe und seine Familie vor der allgemeinen Verderbnis und vor der Bestrafung (Gn 6, 5 - 8) um mit ihm gewissermaßen ein Neues All aufzubauen (8, 17. 21f; vgl. 1, 22. 28; 3, 17). Vor allem aber erwählte sie, als die ,,in ihrer Verkehrtheit einhelligen Völker ( Heiden in Verwirrung gerieten" (Weish 10, 5) den Abraham und nahm ihn aus der sündigen Welt heraus (Gn 12, 1; vgl. Jos 24, 2f. 14), damit ,,alle Völker der Erde durch ihn gesegnet würden" (Gn 12, 2f in deutlicher Gegenüberstellung zum Fluch in 3, 14ff).

II. Die Sünde Israels

Wie die Sünde den Anfängen der Menschheitsgeschichte das Gepräge gegeben hat, so drückte sie auch den Anfängen der Geschichte Israels ihren Stempel auf. Israel erlebte von seiner Geburt an das Drama Adams von neuem. Auch es lernt aus eigener Erfahrung und lehrt uns, was die Sünde ist. Hierbei erscheinen zwei Episoden besonders instrukriv.

1. Die Anbetung des goldenen Kalbes. Gleich Adam, nur noch unverdienter - soferne dies möglich ist -, ist Israel mit Wohltaten Gottes überhäuft worden. Ohne das geringste Verdienst von seiner Seite (Dt 7, 7; 9, 4ff; Ez 16, 2 - 5), nur auf Grund der Liebe Gottes allein (Dt 7, 8) - denn Israel war nicht mehr und nicht weniger

,,sündhaft" als die übrigen Völker (vgl. Js 24, 2. 14; Ez 20, 7f. 18) - ist es dazu auserwählt worden, ein ganz besonderes, vor allen anderen Völkern der Erde bevorrechtetes Volk zu werden (Ex 19, 5), ist es zum ,,erstgeborenen Sohn Gottes" bestellt worden (4, 22). Um es aus der Knechtschaft dem Pharao und aus dem Lande der Sünde zu erretten (aus jenem Land, in dem man nach 5, 1 Jahve nicht dienen kann), hat Gott eine Unzahl von Wundern gewirkt. Nun aber verlangte das Volk ausgerechnet in jenem Augenblick, da Gott mit ihm einen Bund schloß, ihm gegenüber Verpflichtungen einging und Moses ,,die Tafeln des Zeugnisses" überreichte (31, 18), von Aaron: ,,Mach uns einen Gott, der vor uns herzieht" (32, 1). Trotz der Beweise, die Gott für seine ,,Treue" erbracht hatte, ist er Israel zu fern, zu ,,unsichtbar". Es hat keinen Glauben an ihn; es zog ihm einen Gott vor, der seiner Fassungskraft gemäß war, dessen Zorn es durch Opfer besänftigen konnte, jedenfalls einen Gott, den es nach Belieben mit sich führen konnte, statt gezwungen zu sein, ihm zu folgen und seinen Geboten zu gehorchen (vgl. 40, 36ff). Statt ,,mit Gott zu ziehen", wollte es, daß Gott mit ihm ziehe.

Die ,,Ur"sünde Israels, die Verweigerung des Gehorsams, die, tiefer gesehen, eine Weigerung war, an Gott zu glauben und sich ihm anheimzugeben, ist die erste Sünde, die in Dt 9, 7 erwähnt wird und die sich in jeder einzelnen jener unzähligen Rebellionen des ,,halsstarrigen Volkes" wiederholen wird. Vor allem als Israel in der Folgezeit in die Versuchung geriet, neben dem Kulte, den es Jahve erwies, auch den ,,Baalen" zu huldigen, geschah dies stets, weil es sich weigerte, in Jahve den einzig ,,genügenden" Gott zu sehen, dem es seine Existenz verdankte, und ihm allein zu dienen (Dt 6, 13; vgl. Mt 4, 10). Und als der hl. Paulus daranging, die der Sünde des Götzenkultes eigentümliche Bosheit, selbst bei den Heiden, zu beschreiben, zögerte er nicht, sich auf diese erste Sünde Israels zu beziehen (Röm 1, 23 = Ps 106, 20).

2. Die ,,Gräber der Gelüste". Unmittelbar nach der Episode mir dem goldenen Kalb erinnert Dt 9, 22 an eine weitere Sünde Israels, auf die der hl. Paulus gleichfalls verweist und die er als Typ der ,,Sünden der Wüste" hinstellt (1 Kor 10, 6). Der Sinn der Episode ist ziemlich klar. Israel zieht der von Gott gewählten und wunderbar gegebenen Nahrung ein Gericht seiner eigenen Wahl vor: ,,Wer wird uns Fleisch zu essen geben? ... Und jetzt gehen wir zugrunde, all dieser Dinge beraubt, unsere Augen sehen nur mehr das Manna" (Nm 11, 4ff). Israel weigert sich, sich von Gott führen zu lassen, sich ihm anheimzugeben, sich in das zu fügen, was nach den Absichten Gottes die geistige Erfahrung der Wüste bilden sollte (Dt 8, 3; vgl. Mt 4, 4). Seine ,,Gelüste" sollten befriedigt werden; aber gleich Adam sollte es auch erfahren, wie teuer es den Menschen zu stehen kommt, wenn er statt der Wege Gottes seine eigenen Wege gehen will (Nm 11, 33).

III. Die Unterweisung der Propheten

Und gerade dies war die Lehre, die Gott ihm durch seine Propheten unaufhörlich einprägen ließ. So wie der Mensch, der sich anmaßt, sich auf sich selber zu stellen, nur seinem Untergang entgegengehen kann, genauso geht auch das Volk Gottes den Weg der Selbstvernichtung, sobald es von den Wegen abweicht, die Gott ihm vorgezeichnet hat. Auf diese Weise erscheint die Sünde als das Hindernis schlecht hin, ja als das einzige Hindernis, das der Verwirklichung des Planes Gottes für Israel, seiner Herrschaft, seiner ,,Herrlichkeit", die praktisch mir dem Ruhme Israels als des Gottesvolkes gleichgesetzt wird, im Wege steht. Die Sünde des Menschen nimmt eine neue Dimension an. Sie ist nicht mehr bloß Sache dessen, der sündigt, sondern des Volkes in seiner Gesamtheit. Gewiß kommt der Sünde des Führers, des Königs, des Priesters in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortlichkeit zu, und man versteht, daß in erster Linie von dieser die Rede ist, in erster Linie, aber nicht ausschließlich. Schon die Sünde Akans hatte die ganze israelitische Armee vor Ai zum Stehen gebracht (Jos 7), und oft sind es die Sünden des Volkes in seiner Gesamtheit, die die Propheten für das Unglück verantwortlich machen, das das Volk trifft: ,,Nein, die Hand Jahves ist nicht zu kurz, um zu retten, und sein Ohr ist nicht zu schwerhörig, um zu hören. Aber eure Missetaten haben einen Abgrund aufgerissen zwischen euch und eurem Gott" (Is 59, 1f).

1. Der Aufweis der Sünde. Deshalb sollte die Predigt der Propheten zu einem guten Teile im Aufweis der Sünde bestehen, der Sünde der führenden Männer (z. B. 1 Sm 3, 11; 13, 13f; 2 Sm 12, 1 - 15; Jr 22, 13) und der Sünde des Volkes: daher die zahl- reichen Sündenregister in der prophetischen Literatur, die meist mehr oder weniger direkt auf den Dekalog Bezug nehmen und die in der Weisheitsliteratur noch viel zahlreicher werden (z. B. Dt 27, 15 - 26; Ez 18, 5 - 9; 33, 25f; Ps 15; Spr 6, 16 - 19; 30, 11 - 14). Die Sünde wird zu einer sehr konkreten Wirklichkeit, und wir erfahren, was das Verlassen Jahves an Untaten herauf beschwört: Gewalttaten, Raub, Rechtsbeugung, Lüge, Ehebruch, Meineid, Mord, Wucher, mit Füßen getretenes Recht, mit einem Wort sämtliche sozialen Mißstände. Das in Is 59 eingefügte

,, Bekenntnis offenbart, welche ,,Missetaten" es konkret gewesen sind, die ,,einen Abgrund aufgerissen haben zwischen dem Volke und Gott" (59, 2): ,,Denn unserer Missetaten sind wir uns bewußt und unsere Verschuldungen kennen wir: Untreue und Verleugnung Jahves, Abkehr von der Nachfolge unseres Gottes. Wir reden von Bedrückung und Abfall, wir hegen im Herzen Lügenworte und stoßen sie aus. So weicht das Recht zurück, und die Gerechtigkeit muß fernstehen. Denn die Redlichkeit strauchelt auf dem Markt, und die Rechtschaffenheit findet keinen Einlaß" (59, 12 - 14). Schon lange zuvor hatte Osee dasselbe gesagt: ,,Nicht Treue, nicht Liebe, nicht Gotteserkenntnis gibt es im Lande. Fluchen und Lügen, Morden und Stehlen, Ehebrechen und Rauben, Mordtaten über Mordtaten" (Os 4, 2; Is 1, 17; 5, 8; 65, 6f; Am 4, 1; 5, 7 - 15; Mich 2, 1f). Die Lehre ist von grundlegender Bedeutung: Wer sich anmaßt, sich unabhängig von Gott auf sich selber zu stellen, tut dies in der Regel auf Kosten der andern, vor allem der Kleinen und Schwachen. Der Psalmist faßt dies in die Worte: ,,Der Mann, der nicht zu Gott seine Zuflucht nahm" (Ps 52, 9), ,,plant Böses die ganze Länge des Tages" (V. 4), während der Gerechte ,,stets und auf immer der Liebe Gottes vertraut" (V. 10). Hatte dies nicht schon der Ehebruch Davids gezeigt? (2 Sm 12.) Doch ergibt sich aus dieser Episode, die in der Vorstellung der Juden von der Sünde einen so breiten Raum eingenommen hat (vgl. das Miserere) , noch eine andere, nicht weniger bedeutsame Wahrheit: Die Sünde des Menschen verletzt nicht bloß die Rechte Gottes, sie trifft ihn sozusagen ins Herz.

2. Die Sünde als Beleidigung Gottes. Gewiß vermag der Sünder Gott nicht in sich selber zu treffen. Die Bibel ist auf die Transzendenz Gottes zu sehr bedacht, um dies nicht bei Gelegenheit in Erinnerung zu rufen: ,,Trankopfer spendet man fremden Göttern, um mir Schmerz zu bereiten. Aber bereiten sie wirklich mir Schmerz?

- Spruch Jahves -, und nicht vielmehr sich selbst, so daß Schande ihr Gesicht bedeckt" (Jr 7, 18f.) ,,Wenn du sündigst, was kannst du ihm (Gott) antun, und wenn auch deine Missetaten zahlreich sind, was kannst du ihm damit anhaben?" (Jb 35, 6.) Der Mensch, der gegen Gott sündigt, vernichtet letztlich nur sich selbst. Wenn Gott uns Gesetze gibt, so geschieht dies nicht in seinem, sondern in unserem Interesse, ,,auf daß wir alle glücklich seien und das Leben hätten" (Dt 6, 24). Der Gott der Bibel ist nicht der des Aristoteles, dem Menschen und der Welt gegenüber völlig indifferent!

a) Wenn die Sünde Gott auch nicht in sich selber trifft, so trifft sie ihn doch zunächst in dem Maße, als sie diejenigen trifft, die er liebt. Als David ,,den Hethiter Urias mit dem Schwerte schlug und ihm sein Weib wegnahm", dachte er wohl, nur einen Menschen getroffen zu haben, und dazu noch einen Nichtisraeliten; er hatte vergessen, daß Gott sich zum Bürgen der Rechte jeder menschlichen Person macht. Nathan aber belehrte ihn im Namen Gottes, daß er ,,Jahve selbst mißachtet" habe und infolgedessen bestraft werden würde (2 Sm 12, 9f).

b) Ja noch mehr: Die Sünde, die ,,einen Abgrund aufreißt zwischen Gott und

seinem Volke" (Is 59, 2), trifft Gott durch ihr Tun in seinem Ratschluß der Liebe:

,,Mein Volk hat seine Ehre vertauscht gegen die Ohnmacht! ... Es hat mich verlassen, mich, die Quelle lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, brüchige Zisternen, die das Wasser nicht halten" (Jr 2, 11 ff).

c) In dem Maße, als die biblische Offenbarung die Tiefen dieser Liebe aufdeckte, ließ sie auch erkennen, in welch realem Sinne die Sünde des Menschen Gott ,,beleidigen" kann: Sie ist die Undankbarkeit eines Kindes gegen einen liebevollen Vater (z. B. Is 64, 7), ja eine Mutter die ,,die Frucht ihres Schoßes selbst dann nicht vergäße, wenn die eigene Mutter darauf vergessen würde" (Is 49, 15) vor allem aber die Untreue einer Braut die sich jedem Fremden zu eigen gibt, voll Gleichgültigkeit gegen die unentwegte Treue der Liebe ihres Bräutigams: ,,Hast du gesehen, was Israel, die Abtrünnige, verübt hat' Ich dachte: Wenn sie all dies verübt hat, wird sie zu mir zurückkehren. Aber sie kehrte nicht zurück ... Kehre zurück, abtrünniges Israel! . . . Ich werde nicht länger mit Zorn auf dich blicken, denn ich bin voll des Erbarmens" (Jr 3, 7. 12; vgl. Ez 16; 23).

In diesem Stadium der Offenbarung erscheint die Sünde wesentlich als die Verletzung persönlicher Beziehungen, als die Weigerung eines Menschen, sich von einem Gott lieben zulassen, den es schmerzt, nicht geliebt zu werden, den die Liebe sozusagen ,,verwundbar" gemacht hat: das Geheimnis einer Liebe, das seine Erklärung erst im Neuen Testamente finden wird.

3. Das Heilmittel gegen die Sünde. Die Propheten prangern die Sünde an und offenbaren deren tragischen Ernst nur zu dem Zweck, um desto wirksamer zur Bekehrung aufrufen zu können. Denn wenn der Mensch auch untreu ist, Gott bleibt stets getreu. Der Mensch weist die Liebe Gottes zurück, Gott aber hört nicht auf, ihm diese Liebe anzubieten. Solange der Mensch noch einer Rückkehr fähig ist, drängt Gott ihn zur Umkehr. Wie in der Parabel vom verlorenen Sohn ist alles auf diese ersehnte und mit Sicherheit erwartete Rückkehr aus gerichtet: ,,Drum will ich den Weg ihr verlegen mit Dornen und ihr den Weg verbauen, daß sie ihre gewohnten Pfade nicht mehr findet. Sie wird ihren Liebhabern nachlaufen, aber sie nicht mehr erreichen, sie wird sie suchen und nicht mehr finden. Dann wird sie sagen: ,,Ich will zu meinem ersten Manne zurückkehren, denn damals bin ich glücklicher gewesen als heute" (Os 2, 8f; vgl. Ez 14, 11; usw.).

Denn wenn die Sünde in der Zurückweisung der Liebe besteht, wird klar, daß sie nur in dem Maße ausgelöscht, hinweggenommen, vergeben werden kann, als der Mensch bereit ist, von neuem zu lieben: die Annahme einer ,, Vergebung ,, die den Menschen von der Rückkehr zu Gott dispensierte, hieße wollen, daß der Mensch liebe, und ihn gleichzeitig von der Liebe dispensieren! Die Liebe Gottes selbst verbietet ihm also, diese Rückkehr nicht zu verlangen. Wenn er sich einen ,,eifersüchtigen Gott" nennt (Ex 20, 5; Dt 5, 9), so bedeutet dies, daß seine Eifersucht eine Auswirkung seiner Liebe ist (vgl. Is 63, 15; Zach 1, 14). Wenn er für sich in Anspruch nimmt, allein den nach seinem Bilde geschaffenen Menschen glücklich zu machen, so deshalb, weil er allein dies vermag. Was aber die Bedingungen für diese Rückkehr angeht, so findet man sie unter den Stichwörtern Sühne Glaube Vergebung Buße und Bekehrung Erlösung an gegeben.

Die erste Voraussetzung von seiten des Menschen ist offenbar die, daß er darauf verzichtet, sich unabhängig machen zu wollen, daß er Gott über sich bestimmen und sich von ihm lieben läßt, mir anderen Worten, daß er auf das verzichtet, was das eigentliche Wesen der Sünde ausmacht. Nun aber muß er feststellen, daß gerade dies außerhalb seiner Macht steht. Soll der Mensch Vergebung finden, so genügt es nicht, daß Gott seine treulose Braut nicht von sich weise; dazu bedarf es mehr: ,,Mach uns zurückkehren, und wir werden zurückkehren" (Klgl 5, 21). Gott selbst wird also auf die Suche nach den zerstreuten Schäflein gehen (Ez 34). Er wird dem Menschen ein ,,neues Herz", einen ,,neuen Geist", ,,meinen eigenen Geist" geben (Ez 36, 26f). Daran wird man den ,,Neuen Bund' erkennen, daß das Gesetz nicht mehr auf Tafeln von Stein, sondern in das Herz der Menschen geschrieben sein wird (Jr 31, 31ff; vgl. 2 Kor 3, 3). Gott wird sich nicht damit begnügen, uns seine Liebe anzubieten und die unsere zu fordern: ,,Jahve, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommenschaft beschneiden so daß du Jahve, deinen Gott, aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele liebest und Leben habest" (Dt 30, 6). Deshalb bekennt der Psalmist seine Sünde und bittet Gott selbst, ihn zu ,,waschen", zu ,,reinigen , ,,in ihm ein neues Herz zu erschaffen" (Ps 51), in der UEberzeugung, daß die Rechtfertigung von der Sünde einen göttlichen Akt im strengen Sinne verlangt, der zum Schöpfungsakt in Analogie steht. Endlich kündet das Alte Testament an, daß diese innere Umwandlung des Menschen, die ihn seiner Sünde entreißt, dank der Opferhingabe eines geheimnisvollen Knechtes erfolgen wird, dessen tatsächliche Identität vor der Verwirklichung der Prophetie niemand hätte vermuten können.

IV. Die Lehre des Neuen Testaments

Das Neue Testament offenbart, daß dieser Knecht, der gekommen ist, ,,um den Menschen von der Sünde zu erlösen", niemand anderer ist als Gottes eigener Sohn. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Sünde darin keinen weniger bedeutsamen Platz einnimmt als im Alten Testament, vor allem aber, daß die Volloffenbarung dessen, was die Liebe Gottes getan hat, um mit der Sünde fertig zu werden, uns erst die wirkliche Dimension der Sünde erkennen läßt, aber auch die Rolle, die sie im Plane der göttlichen Weisheit spielt.

1. Jesus und die Sünder.

a) Schon zu Beginn der synoptischen Katechese sehen wir Jesus inmitten der Sünder. Denn ihretwegen ist er gekommen, nicht der Gerechten wegen (Mk 2, 17). Unter Verwendung der jüdischen Sprechweise der damaligen Zeit kündigt er ihnen an, daß ihre Sünden ,,nachgelassen" sind. Nicht, daß er durch diesen Vergleich der Sünde mit einer ,,Schuld" - selbst wenn er diesen Ausdruck gelegentlich verwendet (Mt 6, 12; 18, 23ff) - zum Ausdruck bringen wollte, daß die Sünde durch einen Akt Gottes vergeben werden könnte, der keine Umkehr des Geistes und des Herzens des Menschen erforderte. Gleich den Propheten und gleich Johannes dem Täufer (Mk 5, 4) predigt Jesus die Bekehrung eine wurzelhafte AEnderung der geistigen Haltung, die den Menschen innerlich bereit macht, die göttliche Gnade in sich aufzunehmen und sich von Gott führen zu lassen: ,,Das Reich Gottes hat sich genaht. Bekehret euch und glaubet an die Frohe Borschaft!" (Mk 1, 15) Dagegen bleibt Jesus einem Menschen gegenüber, der das Licht zurückweist (Mk 3, 29 par.) oder gleich dem Pharisäer der Parabel (Lk 18, 9ff) vermeint, der Vergebung nicht zu bedürfen, machtlos.

b) Deshalb weist er, wiederum genauso wie dies die Propheten getan, die Sünde auf, wo immer sich diese findet, selbst bei jenen, die sich für gerecht halten, weil sie die Vorschriften eines äußeren Gesetzes beobachten. Denn die Sünde ist im Herzen, ,,aus dem die verkehrten Pläne und Entschlüsse kommen: Taten der Unzucht, des Diebstahls, des Mordes, des Ehebruchs, der Habgier, der Bosheit, der Arglist, Ausschweifung, Neid, Schmähsucht, UEberheblichkeit, Unvernunft; alles Dinge, die aus dem Innern kommen und den Menschen unrein machen" (Mk 7, 21ff par.). Er ist gekommen, ,,das Gesetz" voll und ganz ,,zu erfüllen", nicht aber, es aufzuheben (Mt 5, 57). Der Jünger Jesu darf sich mit ,,der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer" nicht zufriedengeben (5, 20). Gewiß läßt sich die Gerechtigkeit Jesu letztlich auf das eine Gebot der Liebe zurückführen (7, 12), aber erst, wenn der Jünger sieht, was sein Meister tut, wird er allmählich inne, was ,,lieben" bedeutet und was auf der anderen Seite die Sünde, die Zurückweisung der Liebe, zu bedeuten hat.

c) Er wird dessen vor allem dann inne werden, wenn er hört, wie Jesus ihm das alles Begreifen übersteigende Er barmen Gottes mit dem Sünder offenbart. Es gibt wenige Stellen des Neuen Testaments, die besser als die übrigens der prophetischen Unterweisung so nahestehende Parabel vom verlorenen Sohne sichtbar werden läßt, in welchem Sinne die Sünde eine Beleidigung Gottes ist und wie absurd es wäre, sich eine Vergebung Gottes vorzustellen, die keine Umkehr des Sünders in sich schlösse. Was den Vater - abgesehen vom Akt des Ungehorsams, den man voraussetzen kann, obwohl nur der ältere Bruder seiner Erwähnung tut, um ihn seinem eigenen Gehorsam gegenüberzustellen - ,,betrübt" hat, ist das Fortgehen seines Sohnes, dieses Nicht-mehr-Sohn-sein-Wollen, die Tatsache, daß er es seinem Vater unmöglich gemacht hat, ihn wirksam zu lieben. Er hat seinen Vater ,,beleidigt", indem er ihn seiner Anwesenheit als Sohn beraubt hat. Wie aber könnte er diese Beleidigung ,,wieder gutmachen", wenn nicht durch seine Rückkehr und durch die Bereitschaft, sich wieder als Sohn behandeln zu lassen? Deshalb unterstreicht die Parabel die Freude des Vaters. Ohne diese Rückkehr wäre keinerlei Vergebung denkbar, oder besser gesagt, der Vater hatte ihm von allem Anfang an vergeben. Doch kommt diese Vergebung an die Sünde des Sohnes erst mit dessen Rückkehr und durch sie in wirksamer Weise heran.

d) Nun aber offenbart Jesus dieses Verhalten Gottes gegenüber der Sünde durch sein Handeln noch eindeutiger als durch seine Worte. Nicht nur, daß er die Sünder mir derselben Liebe und mit derselben Zärtlichkeit aufnimmt wie der Vater der Parabel (z B. Lk 7, 36ff; 19, 5; Mk 2, 15ff; Jo 8, 10f), selbst auf die Gefahr hin, bei den Zeugen eines solchen Erbarmens AErgernis zu erregen, die sie ebensowenig zu fassen vermochten wie der ältere Sohn der Parabel (Lk 15, 28ff), sondern er geht direkt gegen die Sünde vor, er trägt bei der >> Versuchung als erster den Sieg über den Satan davon. Während seines öffentlichen Lebens entreißt er die Menschen bereits jener Einflußsphäre des Satans und der Sünde, der die Krankheit und die Besessenheit zugehören (vgl. Mk 1, 23). Auf diese Weise übernimmt er bereits die Aufgabe des Knechtes (Mt 8, 16f), jener Stunde harrend, da er ,,sein Leben als Lösegeld hingeben" (Mk 10, 45) und ,,sein Blut, das Blut des Bundes, für die Vielen zur Vergebung der Sünden vergießen wird" (Mt 26, 28).

2. Die Sünde der Welt. Mehr noch als von ,,Nachlassung der Sünden" spricht der hl. Johannes, obwohl ihm dieser traditionelle Ausdruck durchaus bekannt ist (Jo 20, 23; 1 Jo 2, 12), von Christus, der gekommen ist, ,,um die Sünden der Welt hinweg-zunehmen" (Jo 1, 29). Jenseits der einzelnen Akte erschaut er jene geheimnisvolle Wirklichkeit, die zu diesen Sünden führt: eine Gott und seiner Herrschaft feindliche Macht, gegen die Christus angetreten ist.

a) Diese Feindseligkeit wird zunächst in der bewußten Ablehnung des Lichtes konkret sichtbar. Die Sünde besitzt die Undurchsichtigkeit der Finsternis: ,,Das Licht ist in die Welt gekommen, aber die Menschen haben die Finsternis dem Lichte vor- gezogen; denn ihre Werke waren böse" (Jo 3, 59). Der Sünder widersetzt sich dem Licht, weil er es scheut, ,,aus Furcht, seine Werke könnten offenbar werden". Er haßt es: ,,Wer das Böse tut, haßt das Licht" (3, 20). Es ist eine freiwillige Blindheit, eine gewollte Blindheit, weil er sie nicht wahrhaben will. ,,Wenn ihr blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun aber behauptet ihr: Wir sehen. So bleibt eure Sünde" (9, 41).

b) Eine so hartnäckige Verblendung ist nur aus dem verderblichen Einfluß des Satans erklärlich. Denn die Sünde macht zum Sklaven Satans. ,,Jeder, der die Sünde tut, ist ein Sklave" (Jo 8, 34). Wie der Christ ein Kind Gottes ist, ist der Sünder ein ,,Sohn des Teufels, des Sünders von Anbeginn", und ,,tut dessen Werke" (1 Jo 3, 8 - 10). Unter diesen Werken aber hebt der hl. Johannes vor allem zwei hervor, den Mord und die Lüge ,,Er war von Anbeginn an ein Mörder und steht nicht in der Wahrheit, weil in ihm keine Wahrheit ist. Wenn er die Lüge redet, dann redet er aus seinem eigensten Wesen, denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge" (Jo 8, 44). Zum Mörder wurde er dadurch, daß er dem Menschen den Tod gebracht (vgl. Weish 2, 24) und dem Kain den Gedanken eingegeben hat, seinen Bruder zu töten (1 Jo 3, 12 - 15); er ist es auch heute noch, da er den Juden den Gedanken eingegeben hat, denjenigen dem Tode zu überliefern, der ihnen die Wahrheit sagt: .,,lhr sucht mich zu töten, mich, der ich euch die Wahrheit sage, die ich von Gott gehört habe ... Ihr tut die Werke eures Vaters ... und wollt die Gelüste eures Vaters ausführen ,,(Jo 8, 40 - 44).

c) Mord und Lüge aber sind ihrerseits wieder nur durch den Haß zu erklären. Die Heilige Schrift hatte im Hinblick auf den Teufel von Eifersucht und Neid gesprochen (Weish 2, 24). Johannes zögert nicht, von Haß zu sprechen: So wie der verstockte Ungläubige ,,das Licht haßt" (Jo 3, 20), so hassen die Juden Christus und Gott, seinen Vater (15, 22f), wobei er mit den Juden die dem Satan versklavte Welt meint, ja jeden, der Christus die Anerkennung verweigert. Dieser Haß hat ja auch in der Tat zum Morde am Sohne Gottes geführt (8, 37).

d) Das ist die Dimension jener Sünde der Welt, über die Jesus triumphiert. Er kann es, weil er ohne Sünde ist (Jo 8, 46; vgl. 1 Jo 3, 5), weil er mit Gott, seinem Vater, ,,eins ist (Jo 10, 30), weil er reines ,,Licht" ist, ,,in dem keine Finsternis ist" (1, 5; 8, 12), Wahrheit ohne den geringsten Schatten von Lüge oder Falschheit (1, 14; 8, 40), endlich und vielleicht vor allem, weil er ,,Liebe" ist, denn ,,Gott ist die Liebe" (1 Jo 4, 8), und wenn er während seines Lebens nie aufgehört hat, zu lieben, war sein Tod ein solcher Akt der Liebe, daß man sich keinen größeren vorstellen kann, die ,,Voll- endung" der Liebe (Jo 15, 13 vgl. 13, 1; 19, 30). Deshalb war dieser Tod ein Sieg über den ,,Fürsten dieser Welt". Dieser glaubte, sein Spiel gewonnen zu haben; doch vermag er gegen Jesus nichts (14, 30), im Kampf gegen ihn ist er der ,,Unterlegene" (12, 35). Jesus hat die Welt überwunden (Jo 16, 33).

e) Dies beweist nicht nur die Tatsache, daß Jesus ,,das Leben, das er hingegeben hat, wieder zurücknehmen kann" (Jo 10, 17). Dies beweist vielleicht noch deutlicher die Tatsache, daß er seinen Jüngern an seinem Siege Anteil gibt: der Christ, der auf Grund dessen, daß er Jesus aufgenommen hat, ein ,,Kind Gottes" geworden ist (1, 12), ,,begeht keine Sünde, weil er aus Gott geboren ist" (1 Jo 3, 9). Ja noch mehr, solange der ,,göttliche Same" in ihm bleibt, d. h. wahrscheinlich, um mit den Worten des hl. Paulus zu reden, ,,solange er sich vom Geiste Gottes leiten läßt" (Röm 8, 14f; vgl. Gal 5, 16), ,,kann er gar nicht sündigen". In der Tat nimmt Jesus die Sünde der Welt gerade dadurch hinweg, daß er ihr den Heiligen Geist mitteilt, dessen Sinnbild jenes geheimnisvolle Wasser ist, das der durchbohrten Seite des Gekreuzigten als jener Quelle entströmte, von der Zacharias gesprochen hat, die ,,sich dem Hause Davids erschließt gegen Sünde und Unflat" (Jo 19, 30 - 37; vgl. Zach 12, 10; 13, 1). Gewiß kann selbst der aus Gott geborene Christ wieder in die Sünde zurückfallen (1 Jo 2, 1), doch hat ,,sich Jesus zur Sühne für unsere Sünden gemacht" (1 Jo 2, 2) und den Aposteln den Geist verliehen eben zu dem Zwecke, daß sie ,,die Sünden nachlassen" könnten (Jo 20, 22f).

2. Die Theologie der Sünde nach dem hl. Paulus.

a) Ein reicherer Wortschatz erlaubt es dem hl. Paulus, noch genauer zwischen der ,,Sünde" (griech. hamartia im Singular) und den einzelnen ,,sündhaften Handlungen" zu unterscheiden, die er mit Vorliebe, abweichend von den traditionellen Formeln als ,,Verfehlungen" (wörtlich Fehltritte, griech. paraptöma) oder ,,UEbertretungen" (griech. parabasis) bezeichnet, ohne aber deshalb die Schuldhaftigkeit dieser letzteren auch nur im geringsten herabsetzen zu wollen. Auf diese Weise wird die von Adam im Paradiese begangene Sünde, von der man weiß, welche Bedeutung ihr der Apostel zugemessen hat, der Reihe nach als ,,UEbertretung", ,,Verfehlung" und ,Ungehorsam" bezeichnet (Röm 5, 14. 17. 19).

Jedenfalls nimmt die sündhafte Handlung in seiner Moral bestimmt keinen geringeren Platz ein als bei den Synoptikern, wie die in seinen Briefen so häufig vorkommenden Lasterkataloge beweisen: 1 Kor 5, 10f; 6, 9f; 2 Kor 12, 20; Gal 5,19 - 21; Röm 1, 29 - 31; Kol 3, 5 - 8; Eph 5, 3; 1 Tim 1, 9; Tit 3, 3; 2 Tim 3, 2 - 5. Alle diese Sünden schließen vom Reiche Gottes aus, wie mehrmals ausdrücklich gesagt wird (1 Kor 6, 9; Gal 5, 21). Nun läßt sich aber dabei feststellen, in welch engem Zusammenhang hier, genau wie in den analogen Aufzählungen des Alten Testaments, sexuelle Ver- fehlungen, Götzendienst und soziale Ungerechtigkeiten stehen (vgl. Röm 1, 21 - 32 und die Aufzählungen in 1 Kor, Gal, Kol, Eph). Ebenso wird man feststellen, welche Bedeutung der hl. Paulus der ,,Habsucht" (griech. pleonexia) beimißt, jener Sünde, die darin besteht, ,,immer noch mehr besitzen zu wollen", ein Laster, das die alten Lateiner als avaritia bezeichneten und das sehr stark an das erinnert, was der Dekalog (Ex 20, 17) unter dem Namen ,,Begierde" verboten hat (Du sollst nicht begehren; vgl. Röm 7, 7). Der hl. Paulus begnügt sich nicht damit, diese Sünde mit dem Götzendienst in Zusammenhang zu bringen; er identifiziert die beiden: ,,jene Habsucht, die Götzendienst ist"(Kol 3, 5; vgl. Eph 5, 5).

b) Der hl. Paulus geht über die sündhaften Handlungen auf deren Ursprung zurück: sie stellen im sündhaften Menschen den Ausdruck und die AEußerung jener Gott und seiner Herrschaft feindlichen Macht dar, von der der hl. Johannes gesprochen hat. Schon die Tatsache allein, daß ihr der hl. Paulus praktisch das Wort Sünde (im Singular) vorbehält, hebt sie in besonderer Weise hervor. Vor allem aber nimmt der hl. Paulus darauf Bedacht, sowohl deren Ursprung in jedem von uns, als auch deren Auswirkungen so genau zu beschreiben, daß er dadurch einen Aufriß einer regel- rechten Theologie der Sünde liefert.

Wenn auch der hl. Paulus die Sünde in einer Weise als eine personifizierte ,,Macht" darstellt, daß sie zuweilen mit der Persönlichkeit des Satans des Gottes dieser Welt, zu verschmelzen scheint (2 Kor 4, 4), so unterscheidet sie sich doch von ihm: Sie gehört dem sündigen Menschen an, ist ihm innerlich zu eigen. Die Sünde, die durch den Ungehorsam Adams in das ganze Menschengeschlecht (Röm 5,12 - 19) und gleichsam als Auswirkung selbst in das materielle All hineingetragen wurde (Röm 8, 20; vgl. Gn 3, 17), ist auf alle Menschen ohne Ausnahme übergegangen und hat sie alle in jenen Tod mit einbezogen, der nichts anderes ist als die ewige Trennung von Gott, so wie sie die Verdammten in der Hölle erleiden; alle bilden - wenn man von der Erlösung absieht - nach dem Worte des hl. Augustinus, das, richtig verstanden, die Sache genau trifft, eine ,,massa damnata". Und der hl. Paulus gefällt sich darin, diese Situation des Menschen ausführlich zu beschreiben, der ,,an die Macht der Sünde verkauft" (Röm 7, 14), aber noch fähig ist, mit dem Guten zu ,,sympathisieren" (7, 16. 22), ja es sogar zu ,,ersehnen" (7, 15. 21), was beweist, daß noch nicht alles in ihm verdorben ist, daß er aber absolut unfähig ist, es zu voll-bringen (7, 18), und infolgedessen notwendig dem ewigen Tode verfallen ist (7, 24), der der Sold oder noch besser die letzte ,,Auswirkung", die ,,Vollendung" der Sünde ist (6, 21 - 23).

c) Solche Aussagen haben dazu geführt, daß man den hl. Paulus zuweilen der UEber- treibung und des Pessimismus geziehen hat. Dies aber heißt zunächst vergessen, daß der hl. Paulus bei deren Formulierung von der Gnade Christi abgesehen hat; ja, seine Beweisführung zwingt ihn sogar dazu, will er doch die Universalität der Sünde und deren Tyrannei aufzeigen, um die Ohnmacht des Gesetzes darzutun und die absolute Notwendigkeit des Erlösungswerkes Christi herauszustellen. Ja noch mehr: Der hl. Paulus erinnert an die Schicksalsverbundenheit der gesamten Menschheit mit Adam nur zu dem Zweck, um eine viel erhabenere Verbundenheit sichtbar werden zu lassen, nämlich die Verbundenheit der gesamten Menschheit mit Jesus Christus, bildet doch Jesus Christus als Antitypos den Erstgedanken Gottes (Röm 5, 14). Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß die Sünde Adams und deren Folgen nur deshalb zugelassen worden sind, weil Jesus Christus darüber triumphieren sollte, und zwar mit einer solchen UEberfülle, daß der hl. Paulus darauf Bedacht nimmt, erst die Unterschiede zwischen der Aufgabe des ersten und des zweiten Adam aufzu-zeigen (5, 15f), bevor er deren UEbereinstimmung darlegt (5, 17ff).

Denn der Sieg Christi über die Sünde tritt beim hl. Paulus nicht weniger klar hervor als beim hl. Johannes. Der durch den Glauben und die Taufe gerecht fertigte Christ (Gal 3, 26ff; vgl. Röm 3, 21ff; 6, 2ff) hat mit der Sünde vollständig gebrochen. Der Sünde abgestorben, ist er mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus ein neues Sein (Röm 6, 5) geworden, eine ,,neue Schöpfung (2 Kor 5, 17); er ist nicht mehr ,,im Fleische , sondern ,,im Geiste" (Röm 7, 5; 8, 9), wenn er auch, solange er in einem ,,sterblichen Leibe" lebt, unter die Herrschaft der Sünde zurücksinken und ,,seinen Gelüsten folgen" kann (6, 12), wenn er sich weigert, ,,nach dem Geiste zu wandeln" (8,4).

d) Gott triumphiert aber nicht nur über die Sünde. Seine unerschöpfliche Weisheit (Eph 3, 10) erlangt diesen Sieg, indem sie sich die Sünde zunutze macht. Das, was für die Herrschaft Gottes und für das Heil des Menschen das Hindernis schlechthin gebildet hat, spielt in der Geschichte dieses Heiles eine Rolle. Und tatsächlich spricht der hl. Paulus eben im Hinblick auf die Sünde von der ,,Weisheit Gottes" (1 Kor 1, 21 - 24; Röm 11, 33). Hat er doch vor allem über jene Sünde nachgesonnen, die seinem Herzen wohl die schmerzlichste Wunde geschlagen (Röm 9, 2), auf jeden Fall aber für seinen Geist ein AErgernis bedeutet hat, der Unglaube Israels, und erkannt, daß diese übrigens nur teilweise und vorläufige Untreue (Röm 11, 25) in den Heils Ratschluß Gottes für das menschliche Geschlecht einbezogen war und daß ,,Gott alle Menschen nur deshalb im Ungehorsam zusammengeschlossen hat, um sich aller zu erbarmen" (Röm 11, 32; vgl. Gal 3, 22). Deshalb ruft er voll dankbarer Bewunderung aus: ,,0 Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse und wie unergründlich seine Wege!" (Röm 11, 33.)

e) Doch offenbart sich dieses Geheimnis der göttlichen Weisheit, die sich zum Heile des Menschen selbst noch seiner Sünde bedient, nirgends eindeutiger als in der Passion des Gottessohnes. Denn wenn Gott der Vater ,,seinen Sohn (in den Tod) hingegeben hat" (Röm 8, 32), so geschah dies, um ihn in eine Situation zu versetzen, in der er den denkbar größten Akt des Gehorsams und der Liebe vollziehen und auf diese Weise unsere Erlösung wirken konnte, indem er als erster vom Zustand des fleischlichen Menschen in den des geistigen Menschen überging. Nun aber sind die Umstände dieses Todes, die dazu angetan waren, die für einen solchen Akt günstigsten Voraussetzungen zu schaffen, völlig die Auswirkung der Sünde des Menschen gewesen: der Verrat des Judas, die Flucht der Apostel, die Feigheit des Pilatus, der Haß der jüdischen Behörden, die Grausamkeit der Henker und hinter dem sichtbaren Drama unsere eigenen Sünden, zu deren Sühnung er gestorben ist. Um es seinem Sohne zu ermöglichen, zu lieben, wie kein Mensch je geliebt hat, hat Gott gewollt, daß dieser für die Sünde des Menschen verwundbar und den unheilvollen Auswirkungen jener Todemmacht, die die Sünde ist, unterworfen werde, damit wir dank diesem erhabensten Akt der Liebe den wohltätigen Wirkungen jener Lebensmacht, die die Gerechtigkeit Gottes ist, teilhaftig würden (2 Kor 5, 21). So wahr ist es, daß ,,Gott zum Wohle jener, die ihn lieben, alles mitwirken läßt" (Röm 8, 28), alles, sogar die Sünde. Aussatz