SCHRIFT

I. Der Wert der Schrift

In Babylonien und in AEgypten, wo das Schreibmaterial teuer und schwer zu beschaffen und das Schriftsystem ausserordentlich kompliziert ist, bildet die Kunst des Schreibens das Vorrecht einer Kaste, nämlich der der Schreiber, und gilt als eine Erfindung der Götter Nebo oder Thout. In ihr Geheimnis eingeführt zu werden bedeutet die Zulassung zu jenem geheimnisvollen Bereich, wo die Geschicke der Welt festgelegt werden. Mehr als ein assyrischer König rechnet es sich zur Ehre an, Zutritt zu diesem Bereiche erhalten zu haben. Noch in unseren Tagen überschreitet das Kind und vor allem der Erwachsene eine Schwelle, wenn er schreiben lernt. In Palästina, das zwischen dem Sinai und Phönizien liegt, genau dort, wo der menschliche Genius das Alphabet erfunden hat, findet Israel zur Zeit seiner Geburt eine Schrift vor, die allen zugänglich war und die im Vergleich zu den alten Kulturen AEgyptens und Mesopotamiens, die die Gefangenen ihrer archaischen Schriften geblieben sind, einen entscheidenden Schritt nach vorne bedeutete. Zur Zeit Gedeons, lange vor David, ist ein junger Mann aus Sukkor in der Lage, eine Liste der AEltesten seiner kleinen Stadt schriftlich zu überreichen (Ri 8, 14). Die Schrift ist in Israel von den ersten Zeiten an wenn nicht allgemein verbreitet, so doch bekannt gewesen und wurde zu einem der wesentlichen Werkzeuge seiner Religion. Wenn Samuel ,,Das Recht des Königtums" schriftlich niedergelegt hat (1 Sm 10, 25), so ist es kein Anachronismus, zu denken, Josue habe schon lange vor ihm die Satzungen des Bundes von Sichem (Jos 24, 26) oder Moses habe die Gesetze des Sinaibundes (Ex 24, 4) und die Erinnerung an den Sieg über Amalek niederschreiben können (17, 14).

II. Das Gewicht der Schrift

"Was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben" (Jo 19, 22), gab Pilatus den Hohenpriestern zur Antwort, als sie kamen, um sich über die am Kreuze Jesu befestigte Inschrift zu beschweren. Der Römer, die Juden und der Evangelist waren sich darin einig, dass dieser Schrift ein Zeichenwert zukam. Im geschriebenen Wort liegt etwas Unwiderrufliches; es ist ein feierlicher und endgültiger Ausdruck des Wortes deshalb ist es auch von Natur aus geeignet, den unfehlbaren und unberührbaren Charakter des göttlichen Wortes zum Ausdruck zu bringen, jenes Wortes, das ewig bleibt (Ps 119, 89). Wehe dem, der es verfälscht! (Apk 22, 18f). Wahnwitz, sich einzubilden, man könne ihm durch Vernichtung seine Gültigkeit nehmen! (Vgl. Jr 36, 23). Wenn der Ritus mit den ,,Wassern der Bitternis" (Nm 5, 23) trotz des Fortschritts, den er im Vergleich zu den Ordalien von einst darstellt, noch ein archaisches Denken voraussetzt, so bringt die Vorschrift, göttlicht Worte auf die Schwelle jedes Hauses (Dt 6, 9; 11, 20), auf die Rolle, die dem König bei seiner Thronbesteigung überreicht wurde (17, 18), und auf das Diadem des Hohenpriesters zu schreiben (Ex 39, 30), die Souveränität des Wortes Jahves über Israel, die unwiderrufliche Forderung seines Willens in sehr reiner Weise zum Ausdruck. Es ist ganz natürlich, dass die Propheten den Text ihrer Wahrsprüche der Schrift anvertraut haben. Als feierliche und unwiderrufliche Form des Wortes wurde die Schrift im Orient von jenen, die den Anspruch erhoben, das Schicksal festzulegen, zu allen Zeiten gehandhabt. Genauso, wie sich die Propheten Israels bewusst sind, das Wort Jahves zu erhalten, bezeugen sie auch, dass sie es auf Befehl Gottes der Schrift anvertrauen (Is 8, 1; Jr 36, 1 - 4; Hab 2, 2; Apk 14, 13; 19, 9), auf dass dieses öffentlich besiegelte Zeugnis (Is 8, 16) zur Zeit, da die Ereignisse eintreten, beweise, dass Jahve allein sie ehedem bereits geoffenbart hatte (Is 41, 26). Auf diese Weise legt die Schrift für die Treue Gottes Zeugnis ab.

III. Die heiligen Schriften

Als bleibender und offizieller Ausdruck des Handelns Gottes, seiner Forderungen und seiner Verheissungen ist die schriftliche Wiedergabe des göttlichen Wortes heilig wie dieses selbst: die Schriften Israels sind ,,die heiligen Schriften". Das Wort begegnet uns zwar im Alten Testament noch nicht, doch werden schon jene steinernen Tafeln, die das Wesentliche des Gesetzes enthielten (Ex 24, 12) als ,,vom Finger Gottes geschrieben" (31, 18), mit seiner Heiligkeit ausgestattet, angesehen. Das Neue Testament verwendet zwar gelegentlich den rabbinischen Ausdruck ,,die heiligen Schriften" (Röm 1, 2 vgl. 2 Tim 3, 15), spricht aber gewöhnlich nur von den Schriften oder auch von der Schrift im Singular, sei es, um auf einen bestimmten Text hinzuweisen oder anzuspielen (Mk 12, 10; Lk 4, 21), sei es, um die Gesamtheit des Alten Testaments zu bezeichnen (Jo 2, 22; 10, 35; Apg 8, 32; Gal 3, 22). Auf diese Weise kommt das lebendige Bewusstsein von der tiefen Einheit der verschiedenen Schriften des Alten Testaments zum Ausdruck, die der traditionelle christliche Name ,,Bibel" als Bezeichnung der Sammlung der heiligen Bücher noch eindrucksvoller vor Augen stellt. Die häufigste Formel aber ist das einfache ,,Es steht geschrieben", wobei das Passivum Gott bezeichnet, ohne ihn ausdrücklich zu nennen, und gleichzeitig die unzugängliche Heiligkeit Gottes, die unfehlbare Gewissheit seines Wortes und die unerschütterliche Treue, mit der er zu seinen Verheissungen steht, aussagt.

IV. Die Erfüllung der Schrift

,,Es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht" (Lk 24, 44). Die Schrift muß erfüllt werden (vgl. Mt 26, 54). Gott spricht nicht umsonst (Ez 6, 10), und seine Schrift ,,kann nicht aufgehoben werden" (Jo 10, 35). Jesus, den man nur ein einziges Mal schreiben gesehen hat - in den Sand (Jo 8, 6) - hat keine Schrift hinterlassen, hat aber den Wert der Heiligen Schrift bis zum kleinsten Schriftzeichen, dem ,,Häkchen" (Mt 5, 18), feierlich bestätigt und deren Sinn aufgezeigt: Sie kann nicht vergehen, sie bleibt bestehen. Bestehenbleiben aber kann sie nur, indem sie sich erfüllt. Es gibt in der Schrift den lebendigen Fortbestand des ewigen Wortes Gottes, aber auch Niederschläge alter Einrichtungen, die vorübergehen sollten. Es gibt einen Geist der lebendig macht, und einen Buchstaben, der tötet (2 Kor 3, 6). Christus befähigt dazu, vom Buchstaben zum Geist überzugehen (3, 14). Wer durch die Schriften Israels zur Erkenntnis Christi gelangt, schöpft aus ihnen das ewige Leben (Jo 5, 39), wer aber den Worten Jesu den Glauben verweigert, liefert damit den Beweis, dass er selbst dann, wenn er seine Hoffnung auf Moses und seinen Stolz auf dessen Schriften setzt, auch diesem nicht glaubt und ihn nicht ernst nimmt (5, 45 ff).

V. Das in die Herzen geschriebene Gesetz

Der Neue Bund ist kein solcher des Buchstabens mehr, sondern ein solcher des Geistes (2 Kor 3, 6). Das neue Gesetz ist ,,in die Herzen des neuen Volkes geschrieben" (Jr 31, 33), das keiner Unterweisung durch einen von aussen her auferlegten Text mehr bedarf (Ez 36, 27; Is 54, 13; Jo 6, 45). Trotzdem lässt auch das Neue Testament noch Schriften zu, denen die Kirche schon sehr früh dieselbe Autorität zuerkannte und denselben Namen gab wie den alttestamentlichen Schriften (vgl. 2 Petr 3, 16), da sie darin dasselbe Wort Gottes (vgl. Lk 1, 2) und denselben Geist erkannte. Denn diese Schriften liegen nicht nur in derselben Linie wie die heiligen Schriften Israels, sondern erhellen auch deren Sinn und Tragweite. Ohne jene wären die Schriften des Neuen Testaments unverständlich, sie sprächen eine Sprache, zu der niemand den Schlüssel besässe; ohne diese aber enthielten die jüdischen Bücher nur Mythen: ein göttliches Gesetz, das toter Buchstabe blieb, eine Verheissung, die nicht in der Lage war, die Hoffnung zu erfüllen, die sie erweckt, ein Abenteuer, dem kein Erfolg beschieden war. Auch im Neuen Bunde gibt es noch Schriften, denn die Zeit ist noch nicht zu Ende. Es gilt, dem Gedächtnis der Generationen die Erinnerung an das einzuprägen, was Jesus Christus ist und was er tut. Doch bilden die Schriften für den Christen kein Buch mehr, das er Seite für Seite entziffern müsste, sie sind für ihn ein völlig aufgeschlagenes Buch dessen sämtliche Seiten mit einem Blick überschaubar sind und ihr Geheimnis freigeben: Christus, das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende jeglicher Schrift. Buch