GERECHTIGKEIT

Das Wort Gerechtigkeit läßt uns zunächst an eine Rechtsordnung denken: Der Richter übt Gerechtigkeit, indem er die Respektierung des Brauchtums oder des Gesetzes erzwingt. Der sittliche Begriff hat einen weiteren Umfang: Die Gerechtigkeit gibt jedem das, was ihm zusteht, selbst wenn das ihm Zustehende durch das Brauchtum oder durch das Gesetz nicht festgelegt ist. Im Bereiche des Naturrechtes geht die Gerechtigkeitspflicht letztlich auf eine Gleichheit hinaus, die durch Tausch oder Verteilung verwirklicht wird.

Im religiösen Bereich, d. h. dort, wo es sich um die Beziehungen des Menschen zu Gott handelt, findet die Wortfamilie der Gerechtigkeit in unseren Sprachen nur beschränkte Verwendung. Gewiß sind wir es gewohnt, uns Gott als gerechten Richter zu denken und die letzte Gegenüberstellung des Menschen mir Gott als das Jüngste Gericht zu bezeichnen. Doch erscheint diese religiöse Verwendung der Wortfamilie der Gerechtigkeit im Vergleich mit der Sprache der Bibel außerordentlich beschränkt. Obwohl das Wort Gerechtigkeit mit mehreren anderen Ausdrücken Verwandtschaft aufweist (Rechtlichkeit, Heiligkeit, Geradheit, Vollkommenheit usw.), so steht es doch im Mittelpunkt einer engbegrenzten Wortgruppe, die im Deutschen in der Regel durch gerecht Gerechtigkeit, rechtfertigen, Rechtfertigung wiedergegeben wird (hebr. sdq; griech. dikaios).

Einer ersten Gedankenrichtung zufolge, die die gesamte Bibel durchzieht, ist die Gerechtigkeit jene sittliche Tugend, die wir kennen, doch wird ihr Geltungsbereich zur genauesten Beobachtung aller göttlichen Gebote ausgeweitet; diese aber wird als Titel verstanden, der uns vor Gott gerecht macht. Dementsprechend erweist sich Gott als gerecht, sofern er ein Vorbild der Lauterkeit ist, zunächst im Sinne jener richterlichen Funktion, die die Führung des Volkes und der einzelnen Menschen darstellt, sodann als Gott der Vergeltung der je nach den Werken bestraft oder belohnt. Dies bildet den Gegenstand eines ersten Teiles: die Gerechtigkeit in der Perspektive des Gerichtes.

Eine zweite Richtung des biblischen Denkens, oder besser, ein tieferes Erfassen jener Ordnung, von der Gott will, daß sie in seiner Schöpfung herrsche, verleiht der Gerechtigkeit einen weiteren Sinn und einen Wert, der unmittelbarer religiös ist. Die Rechtschaffenheit des Menschen ist stets nur ein Widerhall und eine Frucht der alles überragenden Gerechtigkeit Gottes, jener wundervollen Sorge, mit der er das Weltall leitet und seine Geschöpfe bedenkt. Diese Gerechtigkeit Gottes, die der Mensch durch den Glauben erlangt, fällt letztlich mit seiner Barmherzigkeit zusammen und bezeichnet gleich dieser bald ein göttliches Attribut, bald jene konkreten Heilsgaben die seine Großherzigkeit verschenkt. Verschiedene UEbersetzungen der Bibel versuchen zwar diese Ausweitungen des gewöhnlichen Sinnes unseres Wortes Gerechtigkeit irgendwie zu verdeutlichen, doch bleiben sie notwendig auf die Fachsprache der Theologie beschränkt. Kommt der Christ, selbst wenn er gebildet ist, bei der Lesung von Röm 3,25 auf den Gedanken, daß die von Gott in Jesus Christus geoffenbarte Gerechtigkeit in Wirklichkeit seine Heilsgerechtigkeit, das aber heißt, seine erbarmungsvolle Treue ist? Der zweite Teil soll also diese spezifisch biblische Vorstellung klarlegen: die Gerechtigkeit in der Perspektive der Barmherzigkeit I. DIE GERECHTIGKEIT UND DAS GERICHT

I. Die menschliche Gerechtigkeit

AT

1. Die Gerechtigkeit im Gemeinwesen. Schon die alte israelitische Gesetzgebung fordert von den Richtern die Lauterkeit in der Ausübung ihrer Funktion (Dt 1,16; 16,18.20; Lv 19,15.36). Ebenso verherrlichen die ältesten Sprüche die Gerechtigkeit des Königs (Spr 16,13; 25,5). In ähnlichen Texten ist der ,,Gerechte" einer, der im Rechte ist (Ex 23,6-8) oder, wenn auch selten, der lautere Richter (Dt 16,19). Dieser muß den Unschuldigen unter allen Umständen rechtfertigen d. h. freisprechen, oder wieder in sein Recht einsetzen (Dt 25,1; Spr 17,15).

Die vorexilischen Propheten prangern die Ungerechtigkeit der Richter und der Könige, die Unterdrückung der Armen oft und heftig an und künden auf Grund dieser UEbelstände Unheil an (Am 5,7; 6,12; Is 5,7. 23; Jr 22,13.15). Sie bringen die sittliche und religiöse Dimension der Ungerechtigkeit zum Bewußtsein. Was als bloße Verletzung von Vorschriften oder Gebräuchen empfunden worden war, wird zur Schmach, die man der Heiligkeit eines persönlichen Gottes antut. Deshalb ziehen die Ungerechtigkeiten viel mehr nach sich als die gewöhnlichen Sanktionen: ein von Gott vorbereitetes Strafgericht in Form einer Katastrophe. In den Anklagereden der Propheten ist der Gerechte zwar noch derjenige, der im Rechte ist, doch wird dieser Gerechte fast stets in seiner konkreten und umweltbedingten Situation gesehen: dieser Unschuldige ist ein Armer und ein Unterdrückter (Am 2,6; 5,12; Is 5,23; 29,21).

Ihren Anklagen fügen die Propheten häufig die positive Ermahnung an: ,,UEbet das Recht und die Gerechtigkeit!" (Os 10,12; Jr 22,3 f.) Vor allem erwarten sie aus dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit unserer Gerechtigkeit heraus den kommenden Messias als den lauteren Fürsten, der die Gerechtigkeit ohne Fehl übt (Is 9,6; 11,4f; Jr 23,5; vgl. Ps 45,4f. 7f; 72,1ff.7).

2. Die Gerechtigkeit als Treue zum Gesetz.

Schon vor dem Exil bezeichnete die Gerechtigkeit die hundertprozentige Beobachtung der göttlichen Gebote, das dem Gesetz gemäße Verhalten. Dies tritt in einer ganzen Reihe von Sprüchen zutage (Spr 11,4ff. 19; 12,28), in verschiedenen Erzählungen (Gn 18,17ff) und bei Ezechiel (Ez 3,16-21; 18,5-24). Demgemäß ist der Gerechte im selben Zusammenhang der Fromme der Knecht ohne Fehl und Tadel, der Freund Gottes (Spr 12,10; passim; Gn 7,1; 18,23-32; Ez 18,5-26). Diese von der Frömmigkeit her bestimmte Auffassung von der Gerechtigkeit ist nach dem Exil vorallem in den Klageliedern (Ps 18,21. 25; 119,121) und in den Hymnen spürbar (Ps 15,1f; 24,3f; 140,14).

3. Die Lohngerechtigkeit. Auf Grund des Bedeutungswandels des Wortes, der sich bereits vor dem Exil vollzog und der von dem Gedanken ausgegangen war, daß das dem Gesetz gemäße Verhalten eine Quelle des Verdienstes und des Gedeihens sei, gelangte das Wort Gerechtigkeit, das dieses Verhalten zum Ausdruck brachte, schließlich dazu, auch die verschiedenen Belohnungen der Gerechtigkeit zu bezeichnen. Auf diese Weise wurde ein vollzogener Akt der Güte zu einer Gerechtigkeit vor Jahve, was man beinahe mit Verdienst übersetzen könnte (Dt 24,13 vgl. 6,24f). Wenn es in Spr 21,21 heißt: ,,Wer nach Gerechtigkeit und Güte strebt, findet Leben, Gerechtigkeit und Ehre", so bilden die drei letzten Worte praktisch Synonyma. In Ps 24,3ff ist die von Gott erlangte Gerechtigkeit nichts anderes als der göttliche Segen als Lohn für die Frömmigkeit des Pilgers (vgl.Ps 112,1. 3.9; 37,6).

4. Gerechtigkeit, Weisheit und Güte. In den letzten Büchern des Alten Testaments begegnet man - mit einigen neuen Nuancen - sämtlichen bereits erwähnten traditionellen Themen. Zur Gerechtigkeit im strengen Sinne, die die Beziehungen der Menschen untereinander beherrschen muß (Jb 8,3; 35,8; Prd 5,7; Sir 38,33) kommt in Weish 1,1. 15 ein neuer Aspekt hinzu: die Gerechtigkeit ist die praktisch geübte Weisheit In Weish 8,7 tritt der griechische Einfluß zutage, der dem Wort dikaiosyne die Bedeutung von Gerechtigkeit im strengen Sinne gibt und wo die Weisheit die Mäßigkeit und die Klugheit, die Gerechtigkeit und den Starkmut, also die vier klassischen Kardinaltugenden, lehrt.

In einigen Texten der Spätzeit bezeichnet die Gerechtigkeit sogar das Almosen ,,Das Wasser löscht loderndes Feuer aus, und das Almosen sühnt die Sünden" (Sir 3,30; Tob 12,8f; 14,9ff). Für diesen Bedeutungswandel des Wortes läßt sich ein Grund anführen. Für die Semiten ist die Gerechtigkeit weniger eine passive Haltung der Unparteilichkeit oder ein neutraler, keiner Seite zuneigender Akt, durch den die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, sondern ein leidenschaftliches Eintreten des Richters zugunsten dessen, der ein Recht hat, das je nach dem Falle die Verurteilung oder den Freispruch erfordert. Demgemäß ist der Gerechte ein guter und zum Wohltun bereiter Mensch (Tob 7,6; 9,6; 14,9) und ,,soll der Gerechte ein Menschenfreund sein" (Weish 12,19).

NT

1. Jesus. Die Mahnung zur Gerechtigkeit im juridischen Sinne dieses Wortes steht nicht im Mittelpunkt der Botschaft Jesu. Man findet im Evangelium weder eine Aufstellung der Pflichten der Gerechtigkeit noch einen besonderen Hinweis auf eine bestimmte Klasse von Unterdrückten, noch eine Darstellung des Messias als unbestechlichen Richter. Die Gründe für dieses Schweigen sind unschwer zu fmden. Die alttestamentlichen Gesetzesbestimmungen als Formulierungen des göttlichen Willens stellten gleichzeitig auch eine Charta für eine menschliche Gesellschaft dar. Zur Zeit Jesu war die Handhabung der Gerechtigkeit zum Großteil Sache der Römer, Jesus aber ist weder als sozialer Reformator noch als nationaler Messias aufgetreten. Das schlimmste Versagen seiner Zeitgenossen lag nicht im Bereiche der sozialen Ungerechtigkeit; es lag im spezifisch religiösen Bereich, und zwar im Formalismus und in der Heuchelei In der Predigt Jesu spielt also die Anprangerung des Pharisäertums jene überragende Rolle, die bei den Propheten der Kampf gegen die Ungerechtigkeit gespielt hatte. Indes muß auch Jesus seine Zeitgenossen gemahnt haben, die ,,gewöhnliche" Gerechtigkeit zu üben, doch weisen die Texte hiervon nur geringe Spuren auf (Mt 23,23: das Gericht krisis, bezeichnet hier die Gerechtigkeit im strengen Sinne).

In der Sprechweise Jesu behält die Gerechtigkeit daher den biblischen Sinn der dem Gesetze gemäßen Frömmigkeit bei. Obwohl es sich hier nicht um den Mittelpunkt der Botschaft handelte, stand Jesus doch nicht an, das sittliche Leben als eine wahre Gerechtigkeit zu bestimmen, als einen geistigen Gehorsam gegen die göttlche Gebote. Man muß hier zwei bedeutsame Reihen von Worten Jesu unterscheiden: Die erste Reihe bringt die Verurteilung der falschen Gerechtigkeit der Pharisäer zum Ausdruck. Stärker noch als die großen Propheten prangert hier der Messias die heuchlerische Observanz als eine rein menschliche, vom Hochmut getragene Religion an (Mt 23). Umgekehrt umschrieb die große Antrittsrede die wahre Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit der Jünger (Mt 5,17-48; 6,1-18). Auf diese Weise wird das Leben des Jüngers zwar von einer engen und buchstäblichen Auffassung von den Geboten befreit, bleibt aber nichts destoweniger eine Gerechtigkeit, d. h. eine Treue zu den Gesetzen. Doch erhalten diese Gesetze in ihrer neuen Promulgation durch Jesus den Geist des Mosaismus im Sinne des wahren und vollkommenen Willens Gottes zurück.

2. Das apostolische Christentum. Auch hier steht die Gerechtigkeit im strengen Sinne dieses Wortes nicht im Mittelpunkt der Anliegen. Die Welt der Urkirche glich der Gemeinde Israels noch weniger als die der Evangelien. Die Probleme, die die Kirche zu lösen hatte, waren weniger Fragen der sozialen Gerechtigkeit als die des Unglaubens der Juden und des Götzendienstes der Heiden. Trotzdem blieb, wo Veranlassung dazu bestand, die Sorge um die Gerechtigkeit stets lebendig (1 Tim 6,11; 2 Tim 2,22).

Die Gerechtigkeit im Sinne der Heiligkeit begegnet uns ebenfalls. Die gesetzestreue Frömmigkeit eines hl. Josef (Mt 1,19), eines Simeon (Lk 2,25) schuf in ihnen die Voraussetzung zur Annahme der messianischen Offenbarung (vgl. Mt 13,17). Wenn Matthäus schreibt, daß Jesus bei seiner Taufe ,,jegliche Gerechtigkeit erfüllt habe", scheint er ein Hauptthema seines Evangeliums anzukündigen: Jesus führt die alte Gerechtigkeit, d. h. die Religion des Gesetzes, zu ihrer Vollendung (Mt 3,15). Die Fassung der Seligkeiten bei Matthäus zeigt im Christentum eine erneuerte Form der jüdischen Frömmigkeit auf (5,6.10): die Gerechtigkeit, nach der sich das Sehnen richtet und für die man leiden muß, scheint die Treue zu einer Lebensregel zu sein, die ein Gesetz bleibt. Endlich bezeichnet die christliche Gerechtigkeit genauso wie im Alten Testament nicht nur eine Observanz, sondern auch deren Belohnung. Die Gerechtigkeit wird zu einer Frucht (Phil 1,11; Hebr 12,11; Jak 3,18), zu einer Krone (2 Tim 4,8), und bildet gleichsam die Substanz des ewigen Lebens (2 Petr 3,13).

II. Die göttliche Gerechtigkeit

1. Altes Testament. Alte Kriegs - und religiöse Lieder preisen die göttliche Gerechtigkeit in ihrem konkreten Sinn: bald als Strafgericht gegen die Feinde Israels (Dt 33,21), bald (und hier steht Gerechtigkeit mit Vorliebe im Plural) als Befreiungen, die dem auserwählten Volke zuteil geworden sind (Ri 5,11; 1 Sm 12,6f; Mich 6,3f). Die Propheten bedienen sich derselben Sprechweise und vertiefen sie. Gott richtet seine Strafen - seine Gerechtigkeit - nicht so sehr gegen die Feinde des Volkes, sondern gegen die Sünder auch wenn dies Israeliten sind (Am 5,24; Is 5,16; 10,22...). Andererseits bezeichnet die Gerechtigkeit Gottes auch das Gericht im günstigen Sinne, d.h. die Befreiung dessen, der im Rechte ist (Jr 9,23; 11,20; 23,6). Daher auch die entsprechende Verwendung von ,,rechtfertigen" (1 Kg 8,32). Derselbe Doppelsinn begegnet uns auch in den Klageliedern. Bald richtet der Klagende die Bitte an Gott, er möge ihn in seiner Treue erretten (Ps 71,1f), bald bekennt er, daß Gott durch den Vollzug seines Strafgerichtes seine unbestechliche Gerechtigkeit geoffenbart (Dn 9,6f; Bar 1,15; 2,6) und sich als gerecht erwiesen hat (Esr 9,15; Neh 9,32f; Dn 9,14). In den Hymnen feiert man verständlicherweise vor allem den günstigen Aspekt der Gerechtigkeit (Ps 7,18; 9,5; 96,13): der gerechte Gott ist der gütige Gott (Ps 116,5f; 129,3f).

2. Neues Testament. Im Gegensatz zu den Propheten und den Psalmisten räumt das Neue Testament dem Eingreifen der richterlichen Gerechtigkeit Gottes im Leben des Gläubigen oder der Gemeinde so gut wie gar keinen Platz ein. Es konzentriert seine Aufmerksamkeit vielmehr auf das Jüngste Gericht Es versteht sich von selbst, daß sich Gott in diesem entscheidendsten Gericht als gerecht erweist, doch wird die Wortfamilie der Gerechtigkeit dabei kaum verwendet. Ohne daß Jesus jene traditionelle Wortfamilie, die sich auf das Jüngste Gericht bezieht (Mt 12,26f.41f), ausgeschaltet hätte, offenbart er das Heil als eine göttliche Gabe, die dem Glauben und der Demut geschenkt wird.

Die apostolische Kirche bleibt dieser Sprechweise treu (Jo 16,8.10f; 2 Tim 4,8), fühlt sich jedoch veranlaßt, auf die Strenge des göttlichen Gerichtes hinzuweisen. Man kann sogar von einer Rückkehr zum Wortschatz der Sittlichkeit der Werke sprechen (Mt 13,49; 22,14; Mt 7,13f; Lk 13,24) und von einer gewissen Gleichstellung des Themas vom Gericht mit der evangelischen Botschaft vom Heile durch den Glauben. Ja, noch mehr, man findet selbst beim hl. Paulus etwas von dieser unreduzierbaren Dualität. Gewiß entfaltet sich hier, wie wir noch sehen werden, die Lehre von der Gnade und vom Glauben in ihrem gesamten Umfang, doch spricht der hl. Paulus nach wie vor in jüdischen Ausdrücken vom gerechten Gericht Gottes, der jedem nach seinen Werken vergelten wird (2 Thess 1,5f; Röm 2,5).

II. DIE GERECHTIGKEIT UND DIE BARMHERZIGKEIT

I. Die Gerechtigkeit des Menschen

1. Altes Testament. Die Identifizierung der Gerechtigkeit mit der Beobachtung des Gesetzes bildet geradezu das Prinzip des Legalismus. Sie geht weit über das Exil zurück. Das Gesetz bildet die Norm des sittlichen Lebens, und die Gerechtigkeit des Gläubigen bildet für diesen einen Rechtstitel auf Wohlergehen und Ruhm. Um so notwendiger ist es, auf gewisse Texte hinzuweisen, wo diese Gesetzesgerechtigkeit als wertlos und unwirksam erklärt wird. Alte Texte schildern die Eroberung des Landes der Verheißung unter Hinweisen, die bereits den paulinischen Begriff vom Heil durch den Glauben ankündigen: ,,Sprich nicht in deinem Herzen: ... Auf Grund meiner Gerechtigkeit hat Jahve mich dieses Land in Besitz nehmen lassen..." (Dt 9,4ff).

Im selben Licht ist auch die berühmte Stelle der Genesis zu erklären: ,,(Abraham) glaubte Jahve, und (Jahve) rechnete es ihm als Gerechtigkeit an" (Gn 15,6). Gleichviel ob die Gerechtigkeit hier das Gott wohlgefällige Verhalten bedeutet oder der eben angegebenen Entwicklung entsprechend den Lohn und fast schon das Verdienst meint, in beiden Fällen ist es der Glaube der als Mittel gepriesen wird, um Gott zu gefallen. Diese wesentliche Verbindung zwischen der Gerechtigkeit und der Hingabe an Gott hält uns, wie der hl. Paulus klar ausgesprochen hat, von einer legalistischen Auffassung der Gerechtigkeit fern. Die Formel wird in 1 Makk 2,52 zitiert, und in 1 Makk 14,35, wo die Gerechtigkeit die Treue bedeutet, die Simon seinem Volk bewahrt, begegnet uns gleichsam ein Echo dieser eigentümlichen Auffassung von der Gerechtigkeit.

Endlich kann man annehmen, daß die dramatischen Fragen Jobs und ,,der inspirierte Pessimismus" des Predigers, die die Lehre von der Vergeltung in Frage stellen, die Geister auf eine erhabenere Offenbarung vorbereiten. ,,Es gibt Gerechte, die zugrunde gehen an ihrer Gerechtigkeit... (Prd 7,15 vgl. 8,14; 9,1 f). ,,Wie vermöchte der Mensch gerecht zu sein vor Gott?" (Jb 9,2; vgl. 4,17; 9,20 ...)

2. Neues Testament

a) Die Botschaft Jesu mißt die entscheidendste Bedeutung sicherlich nicht so sehr der Beobachtung der Gebote als vielmehr dem Vertrauen auf Gott zu. Doch hat Jesus der Wortfamilie der Gerechtigkeit keine neue Richtung gewiesen, wohl aber scheint er andere Ausdrücke, wie arm demütig Sünder, mit neuem Inhalt gefüllt zu haben. Indes ist es möglich, daß Jesus den Glauben als die wahre Gerechtigkeit bezeichnet, die Sünder die wahren Gerechten genannt (vgl. Mt 9,13) und die Rechtfertigung als die den Demütigen verheißene Vergebung umschrieben hat (Lk 18,14).

b) Der hl. Paulus mühte sich vor seiner Bekehrung um die Gesetzesgerechtigkeit (Phil 3,6). Diese Gerechtigkeit wird vom gerechten Menschen im Verhältnis zu seinen guten Werken erlangt (Röm 9,30f; 10,3). Man kann sie als eine aus dem Gesetz (Röm 10,5; Gal 2,21; Phil 3,9) oder aus den Werken (Röm 3,20; 4,2; Gal 2,16) erfließende Gerechtigkeit bezeichnen. Die Bekehrung des Apostels bedeutet nicht so ohne weiteres einen völligen Bruch mit diesen Auffassungen. UEbrigens gibt es in den paulinischen Briefen noch echt jüdische Aussagen über das Gericht. Indes stellt die Auseinandersetzung in Antiochien einen entscheidenden Wendepunkt dar: in Gal 2,11-21 stellt der hl. Paulus zwei Rechtfertigungssysteme einander gegenüber und gibt dem Zeitwort ,,gerechtfertigt werden" seine christliche Prägung. ,,Wir haben den Glauben an Jesus Christus angenommen, um Rechtfertigung zu finden aus dem Glauben an Christus und nicht aus den Werken des Gesetzes" (Gal 2,16). Damit hat sich der Begriff der Gerechtigkeit völlig gewandelt. Der Mensch glaubt fortan an Gott, und Gott ,,rechtfertigt" ihn, d. h. verbürgt ihm das Heil durch den Glauben und durch die Verbundenheit mit Christus. Von da an bezeichnet das Wort ,,Gerechtigkeit" und dessen abgeleitete Formen die christlichen Heilswirklichkeiten Denn man wird der Gewißheit des göttlichen Wohlwollens in erfaßbarer Weise inne: Der Geist (Gal 3,2) und das Leben (2,19ff) beglaubigen die Rechtfertigung und begründen sie gleichzeitig. Der Mittelpunkt des Interesses hat sich vom Jüngsten Gericht auf eine Gerechtigkeit verlagert, die als ein gegenwärtiger Zustand aufgefaßt wird, dabei aber eschatologisch bleibt, da er die himmlischen Güter vorwegnimmt.

II. Die göttliche Gerechtigkeit

1. Altes Testament. Wenn Gott von seiner richterlichen Gerechtigkeit Gebrauch macht, befreit er die Unterdrückten meist aus einer Not. An sich verbleibt nun diese Befreiung im Rahmen der richterlichen Gerechtigkeit. Wird sie jedoch als eine Wohltat aufgefaßt, bietet sie einen Ausgangspunkt für einen reicheren Begriffsinhalt der Gerechtigkeit Gottes. Andererseits hat schon das Alte Testament geahnt, daß der Mensch die göttliche Huld nicht auf Grund seiner eigenen Gerechtigkeit erwerben kann und daß der Glaube wichtiger ist, um Jahve wohlgefällig zu sein. Hier hegt ein zweiter Ansatzpunkt für ein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als Erweis der Barmherzigkeit und ein Weg, um dem Geheimnis der Rechtfertigung näherzukommen.

Die Entwicklung begann sich schon sehr früh abzuzeichnen. Nach dem Deuteronomium begnügt sich Gott nicht damit, der Waise Recht zu verschaffen: er liebt den Fremden und gibt ihm Nahrung und Kleidung (Dt 10,18). In Os 2,21 verheißt Gott, sich mit seinem Volke zu verloben ,,in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Liebe". Es kommt vor, daß der Beter, der in den Klageliedern an die göttliche Gerechtigkeit appelliert, viel mehr erwartet als ein gerechtes Urteil: ,,Schenk mir in deiner Gerechtigkeit das Leben (Ps 119,40. 123; 36,11). Ja noch mehr, er erhofft eine Gerechtigkeit, die in der Vergebung der Sünde besteht (Ps 51,16; Dn 9,16). Nun aber stellt die Rechtfertigung des Sünders einen paradoxen Akt dar, der mit der Lehre vom Gericht sogar in Gegensatz steht, nach der die Gerechtsprechung des Schuldigen geradezu das Vergehen schlechthin darstellt. In mehreren Hymnen des Psalters ist ein ähnliches Paradoxon festzustellen: Gott offenbart seine Gerechtigkeit durch ungeschuldete, zuweilen allumfassende Wohltaten, die allenthalben über das hinausgreifen, was der Mensch von Rechts wegen zu erwarten hätte (Ps 65,6; 111,3; 145,7. 17; vgl. Neh 9,8).

In Is 40-66 nimmt der Ausdruck ,,Gerechtigkeit Gottes" einen Glanz und eine Tragweite an, die das große paulinische Thema ankündigen. In diesen Kapiteln ist die Gerechtigkeit Gottes bald das Heil des gefangenen Volkes, bald das göttliche Attribut der Barmherzigkeit oder der Treue Dieses Heil ist eine Gabe die über die Vorstellung der Befreiung oder des Lohnes weit hinausgeht. Es bedeutet die Gewährung himmlischer Güter wie des Friedens und der Herrlichkeit und dies an ein Volk, das kein anderes ,,Verdienst" hat, als das auserwählte Volk Jahves zu sein (Is 45,22ff; 46,12f; 51,1ff. 5.8; 54,17; 56,1; 59,9). Das ganze Geschlecht Israels wird gerechtfertigt, d. h., verherrlicht werden (45,25). Daher erweist sich Gott in dem Sinne als gerecht, daß er seine Barmherzigkeit kundtut und seine >> Verheißungen gnädig verwirklicht (41,2.10; 42,6. 21; 45,13.19 ff).

2. Neues Testament

a) Jesus. Um jene große Offenbarung des göttlichen Heiles, das sein Kommen in die Welt verwirklicht, zum Ausdruck zu bringen, spricht Jesus zum Unterschied vom Deutero-Isaias und vom hl. Paulus nicht von einem Sichkundtun der Gerechtigkeit Gottes, sondern verwendet dafür den gleichwertigen Ausdruck : Himmelreich ( Reich . Auch das nichtpaulinische Christentum hat in Anlehnung an die Sprechweise Jesu die zur Tatsache gewordene Offenbarung der göttlichen Gnade in Jesus Christus ebenfalls nicht durch den terminus ,,Gerechtigkeit Gottes" zum Ausdruck gebracht.

b) Der hl. Paulus. Dagegen wird das Thema vom hl. Paulus mit der bekannten Klarheit entfaltet. Nicht, daß es sich schon zu Beginn seiner Tätigkeit ausdrücklich nachweisen ließe: die Briefe an die Thessalonicher und der Brief an die Galater erwähnen es nicht. Die erste paulinische Heilsbotschaft ist in UEbereinstimmung mit der gesamten Urverkündigung streng eschatologisch (1 Thess 1,10). Allerdings wird der Akzent dabei mehr auf die Erlösung als auf den Zorn gelegt, doch ist diese Befreiung in erster Linie der positive Aspekt eines Gerichtes; man verbleibt dabei also im Rahmen der richterlichen Gerechtigkeit Gottes. Doch haben die Auseinandersetzungen mit den Judenchristen den hl. Paulus veranlaßt, die wahre Gerechtigkeit als eine gegenwärtig gewährte Gnade zu bestimmen. Dies führt ihn dazu, dieses christliche Leben im Römerbrief als Gerechtigkeit Gottes zu bestimmen: der Ausdruck hat den Vorteil, daß er etwas von jenem eschatologischen Sinne beibehält, der dem Heil und dem Reiche ursprünglich anhaftet, daß er aber zugleich auch unterstreicht, daß sie auch eine bereits gegenwärtige Gnade ist, da sie im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit stehen muß. Die Gerechtigkeit Gottes ist also die göttliche Gnade, die an sich eschatologisch, ja sogar apokalyptisch, im christlichen Leben aber real und schon jetzt vorweggenommen ist. Paulus sagt, daß, die Gerechtigkeit Gottes vom Himmel kommt (Röm 1,17; 3,21f; 10,3) und die Menschheit umwandelt; sie ist ein Gut, das wesentlich Gott zugehört und unser wird, ohne aufzuhören, etwas Himmlisches zu sein.

Zugleich aber begreift der hl. Paulus mit ein, daß diese Mitteilung der Gerechtigkeit auf der Treue Gottes zu seinem Bunde dies aber heißt letztlich, daß sie auf seinem Erbarmen beruht. Seltener wird dieser Gedanke ausdrücklich ausgesprochen, wodurch der zweite paulinische Sinngehalt der Gerechtigkeit Gottes deutlich wird: das göttliche Attribut der Barmherzigkeit Dieses scheint in Röm 3,25f auf: ,,Gott erweist seine Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, um selber gerecht zu sein und den gerecht zu machen, der im Glauben Jesu steht." Und in Röm 10,3 werden die beiden Begriffsinhalte miteinander verbunden: ,,Ohne die Gerechtigkeit Gottes (das den Christen geschenkte Gut) zu erkennen und im Bemühen, die eigene aufzurichten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes (dem Heilswillen Gottes) nicht unterworfen."

Die biblische Botschaft von der Gerechtigkeit weist einen zweifachen Aspekt auf. Im Hinblick auf das göttliche Gericht, das sich im Laufe der Geschichte vollzieht, muß der Mensch ,,die Gerechtigkeit üben". Diese Pflicht wird immer innerlicher verstanden, bis sie in eine ,,Anbetung im Geist und in der Wahrheit" ausmündet. Aus der Perspektive des Heilsplanes heraus begreift der Mensch auf der anderen Seite, daß er diese Gerechtigkeit nicht aus seinen eigenen Kräften heraus erlangen kann, sondern daß er sie als eine Gnadengabe erhält. Letztlich kann die Gerechtigkeit Gottes nicht auf den Vollzug eines Gerichtes zurückgeführt werden, sie ist vor allem anderen erbarmungsvolle Treue zu einem Heilswillen; sie schafft im Menschen jene Gerechtigkeit, die sie von ihm fordert. Barmherzigkeit Friede